Nagelbett, günstig, rostfrei

Ein Ikea-Schrank mit integriertem Fakir unterwegs nach England. Zum Glück befreien afrikanische Migranten den Inder aus dem Kasten. Eine Szenerie, bei der man nicht weiß, ob man sich in einem Reise-, Schelmen- oder Gesellschaftsroman befindet. Romain Puértolas' Überraschungsbestseller aus Frankreich.

Da steckt er also, im blauen Metallschrank, der schnurrbärtige und standesgemäß gepiercte Fakir Ayarajmushee Dikku Pradash. Nichts wurde aus dem Schlaf in der Bettenlandschaft des Ikea-Markts Paris-Sud. Mit wenig mehr als Bleistift und Papiermaßband (erbärmliche neue Insignien für einen Schlangenbeschwörer) hat er sich hier verkrochen, auf der Flucht vor dem Arbeitstrupp, der nächtens mit der alten Möbelkollektion kurzen Prozess macht. Ayarajmushee ist nach Europa gekommen, um günstig ein neues Nagelbett zu kaufen: Modell Likstupikstå (nur eines der vielen Sprachspiele mit Namen), schwedische Kiefer, 15.000 Nägel höhenverstellbar und rostfrei (Selbstmontage!). Die weitere Reise hat er mit einem falschen 100-Euro-Schein bestritten, der per Taschenspielertrick stets zu ihm zurückkommt. Bei der Sichtung der Tageseinnahmen dämmert dies auch dem düpierten Taxifahrer. Er setzt sich auf des Schwindlers Fährte, und die kompositorische Vorsehung des Autors lässt ihn mehrmals seine Wege (durch)kreuzen.

Mit dieser Szenerie beginnt Frankreichs Überraschungsbestseller, dessen erfrischend unbekümmerter Habitus der Leser- und Kritikerschaft eine kollektive Druckentlastung brachte. Kein Wunder bei einer Literatur, deren Grundstimmung sonst stark mit dem landesweiten Verbrauch an Psychopharmaka korreliert. „Endlich ein Roman zum Totlachen“, titelt der „Nouvel Observateur“. „Le Monde“ berichtet von der „Fakirmania“ auf der Frankfurter Buchmesse (Verkauf der Rechte in über 30 Länder). „Marianne“ vergibt das Prädikat „erster authentischer ,globisher‘ Roman“ und erschauert zugleich: „Ein erschreckend wirkungsvolles Produkt.“

Der Ikea-Schrank mit integriertem Fakir wird übrigens flugs in einen Laster verfrachtet, in dessen Laderaum sich bei Calais noch weiteres Publikum einfindet. Afrikanische Migranten befreien den Inder aus seinem zwangsjackenhaften Gefängnis, bevor sie am anderen Tunnelende von der Grenzpolizei Ihrer Majestät hopsgenommen werden. Dieser Trip nach England ist der Auftakt zu einer Tour (de Force) quer über den Kontinent, denn den Beamten fällt es nicht schwer, Indizien zu finden, um die Ankömmlinge konventionskonform in ein entfernteres Land, also Spanien, auszufliegen.

Ab dort werden die Transportmittel für Aya wieder ungemütlicher. In einem Garderobenkoffer der Filmschauspielerin Sophie Morceaux (!) geht es nach Rom, in einem Schiffbruch erleidenden Heißluftballon (ja, das gibt es) nach Libyen. Unterwegs ist Ayarajmushee zum Schriftsteller geworden und hat für das – im Frachtraum auf sein Hemd geschriebene – Erstlingswerk einen stattlichen Betrag eingesackt, der ihm eine komfortable Rückkehr nach Paris ermöglicht. Geradewegs in die Arme von Marie, der Zufallsbekanntschaft aus dem Ikea-Restaurant, wäre diese nicht ausgerechnet mit, tja, dem fatalen Taxi zum Flughafen angereist. So kommt es noch zu einem Intermezzo, dessen Läsionen sich mit den Fakir-Kernkompetenzen in Grenzen halten lassen, so wie diese überhaupt das Fort- und Davonkommen des Protagonisten sichern. Der ebenso wenig wie die Literaturkritik weiß, ob er sich nun in einem Reise- oder Abenteuerroman, Hochstapler-, Schelmen-, Gesellschafts- oder Entwicklungsroman befindet.

Doch was ist es eigentlich, was die Kritiker zum Jauchzen bringt? Hauptsächlich das Faktum, dass man sich einem völlig abgefahrenen Text gegenübersieht. Der Autor aus Montpellier mit spanischen Wurzeln, dessen Biografie (DJ, Sprachlehrer und – eben! – Polizeileutnant) auch eine Etappe als Jungfernzersäger in einem österreichischen Zirkus enthält, scheint aus seinem Erfahrungsschatz just das Skurrilste herauszuholen.

Es beginnt schon mit der personellen Ausstaffierung: Julio Sympa, der schnöselige Filialchef des Möbelgiganten; Frau und Tochter des Taxlers – Mercedes-Shayana in Lycra-Leggins, Miranda-Jessica in Jeans-Hotpants; ein rasant vom Lover zum Ehemann mutierender Jesús Cortés Santamaría oder der Kulturmanager Hervé mit seiner „großen, feucht-weichen Pfote“.

Doch die eigentliche Spezialität sind hasardöse, oft auf Populärkultur basierende Sprachbilder: „Als er seine Coca-Cola-farbenen Augen zu der jungen Frau erhob, sprudelte sein Blick.“ Oder: „Dicke graue Schatten lagen unter seinen Augen, wie zwei Klammerzeichen, die zu schwach waren, um sich aufrechtzuhalten.“ Wie bitte? Durch Wiederholungen wird dieser Satz sogar noch zur leitmotivischen Textklammer stilisiert.

Genauso geht es im Plot her. Verblüffende Schauplatzwechsel, veränderte Perspektiven, verschachtelte Erzählebenen, alles eher ramponiert als raffiniert. Der Leser wird als Mitvertrauter gewonnen, etwa bei den Konstellationen „erlebter Rede“ und wenn die Hauptfigur mit sich selbst den Weiterverlauf der eingebetteten Geschichte verhandelt. Das Spiel mit Metapositionierungen bezieht selbst die stilistische Verfasstheit mit ein: „Marie legte den Hörer auf, verzehrt von den Flammen eines wilden Feuers, ein Satz, der nicht viel bedeutet, aber doch einige bildliche Kraft entfaltet, zumal durch die Alliteration von V und F.“

Der im Prinzip versierte Übersetzer wird von all dieser quellenden Fantasie überrumpelt und trifft – ewig schade – den Ton nicht. Einige Effekte sind freilich beim besten Willen nicht transformierbar. „La vache!“ ist im Französischen ein Ausruf des anerkennenden Erstaunens; das Auftreten in der Namensfolge des Fakirs (er heißt dort Ajatashatru Lavash Patel) schlägt die bizarre Brücke zu den ständig aus dem Nichts auftauchenden (heiligen) indischen Kühen. „Die Kuh“ im Deutschen muss ohne diese Interjektionsfunktion zwangsläufig blutleer bleiben.

Nicht verzeihbar ist jedoch das häufige Abgleiten in schale Phrasen. Wo Ajatashatru „un coup d'lectrochoc“ durchfährt, geht Ayarajmushee bloß „ein Licht auf“, aus dem „camion ivre“ wird ein Lkw, der bloß „daherrumpelt“, und „les personnalités édulcorées“ lösen sich in der „Glitzerwelt“ des Showbusiness auf. Umgekehrt werden (als versuchte Kompensation?) plumpe Kraftausdrücke bemüht, wo sich das Original durchaus zurückhält. Aus Geldscheinen werden „Mäuse“, der Fakir hat eine gute Geschichte nicht einfach so, sondern „am Wickel“, und er wird nicht festgenommen, sondern „einkassiert“. Unverzeihlich auch das Suffix -chen, das reflexartig für das Adjektiv petit herhalten muss und zu stumpfer Verniedlichung führt.

Zurück zum Buch: Der finale Coup ist Puértolas mit seinem eigenen Avancement zum Bestsellerautor gelungen. Damit verschränkt sich das Werk mit der Realität, und die Geschichte des zum Erfolgsschriftsteller werdenden Fakirs wiederholt sich als grandiose Practical Fiction auf dem Buchmarkt. Ob das auch mit der deutschen Ausgabe klappen wird, muss sich erst weisen. ■

Romain Puértolas

Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem Ikea-Schrank feststeckte

Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. 304S., geb., €18,50 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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