Mit Zange und Revolver

Drei junge Männer stoppen einen Zug von Belgien nach Auschwitz und verhelfen 119 Insassen zur Flucht: Das ist einer von bisher noch kaum untersuchten Fällen einer „Flucht von Juden aus Deportationszügen“, die Tanja von Fransecky nun gründlich erforscht hat.

Widerstand hat viele Gesichter. Sich einem von den Nazis bestimmten Schicksal, dem Tod im Gas, mit Mut und Fantasie zu entziehen, es nicht dem Glück oder Zufall zu überlassen, ob man wider jede Wahrscheinlichkeit überleben wird, sondern aktiv gestaltend einzugreifen, um sich und andere zu retten, das ist zweifellos eine Form von Widerstand – im Fall der Arbeit Tanja von Franseckys eine bisher noch kaum erforschte: „Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden“.

Manche dieser Geschichten sind absolut filmreif, etwa der Angriff auf den 20. Transport aus dem belgischen Sammellager Mechelen am 19. April 1943 durch drei junge Männer: Georges Livchitz und dessen nicht jüdische Schulfreunde Jean Franklemon, ein 25-jähriger ehemaliger Spanienkämpfer, undder 22-jährige Medizinstudent Robert Maistriau, der nie zuvor an einer Widerstandsaktion teilgenommen hat. Ausgestattet mit einem Revolver, den sie ausgeborgt hatten, und Zangen zum Öffnen der Waggons hielten sie nachts – die Transporte fuhren in der Nacht – mit einer Sturmleuchte, die sie mit rotem Papier umwickelt und auf die Gleise gestellt hatten, den Zug an. Dann rannten sie, schon unter dem Feuer der Schutzpolizei, um mit ihren Zangen die verschlossenen Waggons zu öffnen.

Die ganze Aktion war so tollkühn und dilettantisch, wie sie hier klingt. Schon zuvor hatte es Überlegungen gegeben, aber erfahrene Partisanengruppen hatten abgelehnt, weil sie den Plan für kaum durchführbar hielten und die Erfolgsaussichten für zu gering. Die drei jungen Männer aber hatten Erfolg – zumindest teilweise. Von den 232 Zugflüchtlingen dieses Transports haben knapp mehr als die Hälfte überlebt, nämlich 119 – viele wegen dieses Zugstopps, andere, weil sie unabhängig davon davor oder danach abgesprungen waren. Die 113 nicht überlebenden Geflohenen dieses Transports wurden auf der Flucht erschossen oder starben bald danach an ihren Verletzungen oder beim Aufprall nach dem Sprung oder wurden wieder verhaftet und mit dem folgenden Transport in den Tod geschickt. Einzelnen Flüchtlingen drückte Robert Maistriau auch noch Geld in die Hand, damit sie sich durchschlagen konnten, und erklärte ihnen in der gebotenen Eile den Weg nach Brüssel, wo sie sich verstecken konnten bis zur Befreiung.

In seinem Roman „Die Pest“ schreibt Albert Camus auf der letzten Seite – quasi als Resümee: „Dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.“ Der Roman erschien 1947, zwei Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, drei Jahre nach dem Ende der vielfältigen französischen Kollaboration mit den Nazis; ich vermute, es waren nicht viele, die Camus damals recht gaben. Aber wenn man die Geschichte dieser drei jungen Männer betrachtet, die mit praktisch nichts in der Hand den Zug nach Auschwitz gestoppt und viele Menschen gerettet haben, dann versteht man dieses verzweifelt-optimistische Trotzdem, das ebenso im Satz von Camus steckt wie in der heroischen Rettungsaktion dieser drei.

Auch bei diesem 20.Transport von Mechelen nach Auschwitz gab es unmittelbar vor der Flucht im Waggon heftige Auseinandersetzungen unter den Deportierten – wie bei sehr vielen Fluchten und Fluchtversuchen aus dem Zug, weil die Deutschen erklärt hatten, für den Fall, dass jemand fehlt, würden alle anderen erschossen. Da den meisten unklar war, was sie nach der Ankunft erwartete, betrachteten viele im Waggon die Flucht als unsolidarischen Akt, den es zu verhindern galt. Auch die Flüchtenden selbst waren oft nicht frei von Gewissensbissen, obwohl sie die Flucht vorbereitet und im Rahmen des Möglichen geübt hatten, die Kinder von den Hochbetten im Lager springen ließen und Werkzeuge in den Waggon geschmuggelt hatten. Das jüngste Kind, dem die Flucht durch Sprung aus dem fahrenden Zug gelang, war erst vier, hieß Monika Fritz, hatte Eltern aus Wien und überlebte gemeinsam mit diesen versteckt in Frankreich.

Natürlich gab es nationalsozialistische Gegenmaßnahmen. Das Reichssicherheitshauptamt ordnete im Februar 1943 für jeden Transportzug „eine entsprechend ausgerüstete Begleitmannschaft“ an, die vorher „eingehend über ihre Aufgaben zu belehren“ sei. Aber es nützte nichts, das Fliehen ging weiter. SS-Obersturmführer Röthke notierte resigniert: „3 Gendarmen merken nicht, wenn 8 Juden ein Loch sägen und entfliehen!!!“ Und das Pariser Judenreferat stellte fest, „die Leibesvisitation nach Schneidewerkzeugen aller Art durch die französische Polizei (sei) offenkundig nach wie vor mangelhaft“.

Was wir in dieser materialreichen und gut erzählten Arbeit noch erfahren: dass es in Frankreich seit Herbst 1942 in Untergrundzeitungen und Radiosendungen Meldungen über die Vernichtung gab, dass die Zeitung „En Avant“ Ende 1942 von zwei Millionen ermordeter Juden in Osteuropa berichtete und dass in „J'accuse“ vom 25.Dezember 1942 das Wort „Gaskammer“ vorkam. Damit finden wir bestätigt, was mittlerweile viele Untersuchungen für Deutschland belegen und was Frank Bajohr und Dieter Pohl im Titel ihres Buches zusammenfassen: „Der Holocaust als offenes Geheimnis“.

So weit als möglich hat Tanja von Fransecky die Geschichte der Fluchten und Fluchtversuche, der Flüchtenden und ihr weiteres Schicksal bis Kriegsende – manchmal auch darüber hinaus – erforscht. Und obwohl ihr Thema der Transport in den Tod ist, hat dieser Text auch etwas Tröstliches. Er zeigt uns Menschen, die sich gegen ein scheinbar unabwendbares Schicksal auflehnen, und Menschen, die ihnen todesmutig dabei helfen. Der Text zeigt uns – man verzeihe das Pathos – etwas Schönes inmitten des Grauens. ■

Tanja von Fransecky

Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den
Niederlanden

398S., brosch., €24,70 (Metropol Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.