Der Gestank von totem Fisch

Authentisch: Nach dem Tsunami von 2011 findet Ruth Ozeki am Strand das Tagebuch eines japanischen Schulmädchens. Das Heft gibt der Autorin Anlass, die Hintergründe zu recherchieren.

Drei Jahre nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima entschloss sich Japans Regierung, die stillgelegten Atomkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Unterdessen wohnen weiterhin Zehntausende Evakuierte in Containern. Die in simple Plastiksäcke geschaufelte kontaminierte Erde stapelt sich tonnenschwer. Endlagerung ungeklärt. So zu tun, als wäre dies eine Katastrophe wie alle bisherigen, um zu verdecken, dass die Kombination von Beben, Tsunami, Atomgau eine unlösbare Problematik bedeutet, gehört zur Strategie der Regierung, unangenehme Themen zu verschweigen. Eine kritische mediale Öffentlichkeit gibt es nicht, Atomgegner werden als Verräter an der Gemeinschaft behandelt.

In ihrem Dokumentarroman „Geschichte für einen Augenblick“ beschreibt Ruth Ozeki das gegenwärtige Japan aus der Sicht einer Erzählerin, die ihre Schulzeit sowohl dort als auch in den USA verbrachte und nun auf einer kanadischen Insel wohnt. Der Abstand über den Pazifik erlaubt Ozeki einen freieren Zugang auf tabuisierte Themen Japans, vor allem auf seine schuldhafte Geschichte, ohne die man das derzeitige Verhalten der Regierung kaum verstehen kann.

Den Anlass der sich entwickelnden Geschichte um ein japanisches Schulmädchen bildet ihr Tagebuch, das Ruth nach dem großen Erdbeben vom 11. März 2011 am Strand findet und zu lesen beginnt. Die Schülerin Naoko erzählt von einem schwierigen Vater-Tochter-Verhältnis, von Mobbing und Suizidabsichten. Ruths Interesse, die Hintergründe von Naokos Notizen zu recherchieren, wird geweckt. Konterkariert sind diese Überlegungen durch Ruths Alltag, Reminiszenzen an ihre Jahre als japanisch-amerikanischer Teenager, ihre Diskriminierung, Arbeitsaufenthalte in Japan und die Sorge um das Auftauchen von möglicherweise durch die Atomkatastrophe von Fukushima verseuchten Müll an der kanadischen Küste.

So erinnert sie sich, wie sie versuchte, nach dem Tsunami Informationen im Internet zu recherchieren. Doch sie kommt nur so nahe an die Leidenden heran, wie der Blick des Kameramanns es erlaubt: „Auf dem Bildschirm ist ein Mann Ende dreißig oder Anfang vierzig zu sehen. Er steht vor einem weiten Feld aus Tsunami-Trümmern, das sich bis in die Ferne erstreckt, so weit das Kameraauge reicht. Aber was die Kamera nicht übermitteln kann, ist der Gestank. Der Geruch, erklärt er, ist unerträglich, der erstickende Gestank von verwesendem Fisch und Fleisch, die in den Trümmern begraben liegen.“ Ozeki befragt die Dokumente und damit ihre Verwertbarkeit und eingeschränkte Wirksamkeit: „Was ist die Halbwertzeit von Informationen? Ist die Halbwertzeit von Informationen mit dem Zerfall unserer Aufmerksamkeit verknüpft?“

Naokos Berichte hingegen schaffen eine persönliche Nähe, die Ruth tiefer angreift als die fernen Bilder. Die Lunchbox, in der sich das Tagebuch des Teenagers befand, enthält weitere Dokumente: Briefe ihres Großonkels, die dieser – aus Tarnungsgründen – auf Französisch verfasste, als er zu Ende des Zweiten Weltkriegs auf seinen Einsatz als Kamikaze wartete. Dies legitimiert Ozeki, über die aggressive Rolle Japans vor und während dieses Kriegs zu sprechen, zum Beispiel über das Massaker von Nanking, bei dem im Winter 1937/38 japanische Soldaten die chinesische Bevölkerung zu Hunderttausenden grausam töteten. Neben den wahren Briefen, in denen der Großonkel sich als Kriegsgegner zu erkennen gibt, existieren auch die offiziellen Schreiben, die die von ihm erwarteten patriotischen Statements enthalten.

Da Ozeki weder Französisch beherrscht, noch japanische Schriftzeichen entziffern kann, muss sie passende Übersetzer suchen. Nicht zuletzt werden E-Mails in den Text eingearbeitet, die Ozeki an einen Professor in Kalifornien schickt, um die Wohnadresse Naokos zu erfahren, da sie einerseits meint, das Mädchen vor dem Selbstmord retten zu müssen, andererseits wissen möchte, ob Naoko die Katastrophe überlebt hat.

Ozeki behandelt viele in Japan verschwiegene Themen wie Kriegsschuld, Okkupation, Vertreibung, Atomgefahr, die in Form von Gesprächen und Rechercheergebnissen im Text auftauchen. Ihre Suchbewegung legt sie offen, kritisiert und hinterfragt die Quellen. Zugegeben, Ozekis Lösungen, die auseinanderliegenden Stränge glaubhaft zu verdichten, sind etwas willkürlich. Durch ihre Methode bleibt aber die Fragilität der erzählten Geschichten bewahrt. ■

Ruth Ozeki

Geschichte für einen Augenblick

Roman. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler. 560S., geb., €20,60
(S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

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