Die Last der Heimat

Slowake, Österreicher oder doch Deutscher? In „Steiners Geschichte“ erzählt Constantin Göttfert sehr ambitioniert, wie Karpatendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg im Marchfeld Fuß fassen.

Was ist das eigentlich für eine Frisur?“, fragt der junge Mann die junge Frau, von der er noch nichts weiß, beim Kennenlernen. Es handelt sich um eine traditionelle Flechtfrisur der Karpatendeutschen, klärt sie ihn auf. „Karpatendeutsche? Was ist das?“ „Ich bin das“, sagt sie und lacht.

Martin und Ina heißt das Paar im Mittelpunkt von „Steiners Geschichte“, dem zweiten Roman des heimischen Autors Constantin Göttfert. Dessen Erzählvorhaben werden von Mal zu Mal signifikant umfangreicher: Nach drei Büchern mit Erzählungen und dem 140-Seiten-Romandebüt „Satus Katze“ legt er nun ein fast 500 Seiten starkes Werk vor, mit dem er große Ambitionen verrät.

Göttfert, der das Literaturinstitut Leip- zig absolviert hat, will in die erste Liga der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vorstoßen, so viel wird bei der Lektüre klar. Ein altmodisches Ansinnen? Vielleicht. „Steiners Geschichte“ jedenfalls ist das Werk eines Autors, der alles daransetzt, als Erzähler einen langen Atem zu beweisen. Und die Geschichte und Geschichten, die er dem Leser auftischt, sind auch spannend genug, um ihm zu folgen. Man muss allerdings auch manches an Leerlauf und stilistischen Ungereimtheiten aushalten.

Doch zunächst zum Inhalt: Triebfeder des Romans sind Inas Nachforschungen, wie das Leben ihres Großvaters als junger Karpatendeutscher in der Nähe von Bratislava – er selbst hätte Pressburg gesagt – ausgesehen hat. Zu Hause ist darüber nie gesprochen worden. Nach dem Tod des Großvaters und als ihr erstes Kind zur Welt kommt, wird Inas Drang, etwas über ihre Herkunft zu erfahren, übergroß. Bevor sie nicht über die Vergangenheit Bescheid weiß, kann sie keine eigene Familie haben und verordnet sich und Martin kurzerhand eine Beziehungspause, um in Ruhe recherchieren zu können.

Großvater Steiner, der stets vornamenlos bleibt, war der Letzte in einer langen Liste von Steiners, die als Großgrundbesitzer im Dorf Limbach lebten. Während die meisten Karpatendeutschen im Zweiten Weltkrieg längst ins Deutsche Reich gebracht worden oder geflüchtet waren, harrten solche wie Steiner, die Besitz hatten, bis kurz vor Kriegsende, als die Rote Armee am 4.April 1945 Bratislava erreichte, aus.

Nach dem Krieg musste der Mann, der zuvor bei der Arbeit die Kommandos erteilt hatte, als Helfer bei österreichischen Bauern Unkraut ausreißen. Die alte Heimat verschwand unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Mit Ach und Krach ging sich noch ein kleiner eigener Hof im Marchfeld aus. Steiner führte von da an ein Leben, das von harter, kaum lohnender Arbeit definiert wurde. Und von seinem Schweigen.

Als Martin seine Ina kennenlernt, ist ihr Großvater längst alt und ein gebrochener Mann. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn, Inas Vater, empfängt er Martin in der Stube der Steiners. Sie ist mit Erinnerungen an das alte Leben vollgestellt und mutet wie ein Museum an. Steiner hat versucht, so viel wie möglich von der alten Heimat nach Österreich mitzubringen, das ihm nie zu einer neuen wurde: „Er sei kein Slowake und kein Österreicher. Zuletzt hatte er behauptet, Deutscher zu sein, obwohl er nie in seinem Leben in Deutschland gewesen war.“

Die Szene mit Martins Einstandsbesuch ist großartig, zeigt symptomatisch aber auch die kleinen Schwächen des Romans auf, die sich im Lauf der Lektüre häufen. Göttfert schildert schön, wie der junge Mann, der gerade sein Lehramtsstudium abschließt, in eine fremd anmutende Welt hineingezogen wird.

Vom stolzen Bauern zum Erntehelfer

Das Aufeinandertreffen mit Inas strengem Vater und den einsilbigen Großeltern wirkt auf ihn höchst verstörend. Das Geschilderte verfügt aber auch über eine dunkle Komik. So erschrickt Martin, als er nach einiger Zeit in der Stube bemerkt, dass auch Großvater Steiner anwesend ist: Der liegt auf der Küchenbank, wo er vom Tischtuch verdeckt wird und für den Besucher deshalb die längste Zeit unsichtbar bleibt.

Das hat fast Bernhard-Format. Thomas Bernhard schimmert als Vorbild überhaupt an einigen Stellen durch. Die Schilderungen des Lebens in tiefer Provinz erinnern bisweilen an Romane wie „Frost“. Auch sprachlich huldigt Göttfert Bernhard. „Ein immer stiller und unheimlicher werdender Hass sei in Steiner gewesen, mit dem er sich tagelang völlig wortlos beschäftigte, immer intensiver beschäftigte“, heißt es da. Oder an anderem Ort, mit Blick auf Inas abwesende Mutter: „Ina hasste sie, aber ich dachte, dass man ihr die Leistung, tatsächlich aus der Steiner'schen Familie entkommen zu sein, hoch anrechnen müsse, eine Höchstleistung, dachte ich.“ Viele Zusammenhänge, etwa der Verbleib von Inas Mutter, erschließen sich bei der Lektüre erst nach und nach, Göttfert arbeitet gern mit Andeutungen. Aber er erzählt auch wieder zu viel. So kommentiert Martin seinen ersten Besuch bei Steiners: „Der ganze Raum strahlte Trauer, einen dunklen Kitsch aus, eine Unmöglichkeit.“ All das hat die atmosphärisch dichte Szene längst evoziert. Der erläuternde Satz zerstört die Stimmung wieder.

Die erwähnten stilistischen Mängel wiederum liegen vor allem im Unwillen des Erzählers, sich für einen Ton zu entscheiden. Die Manier, in der Göttfert seinen Martin sprechen lässt, erinnert nicht nur an den großen Ohlsdorfer, manchmal schimmert auch Kafka durch, dann wieder kommt unspektakuläre Alltagssprache zum Einsatz.

Außerdem hat der Autor noch ein Faible für Naturschilderungen. Sie erinnern einen an Bernhards Diktum, ein Autor müsse nicht „jedes Blümerl“ am Wegrand anführen. Vor allem dann nicht, wenn Martin nach seiner Ina sucht, sich dabei aber von der Gegend ablenken lässt: „Auf der Höhe des ehemaligen Wasserkrans sah ich, wie die Sonne durch die Nebeldecke brach und die ersten Strahlen von den rotierenden Armen der Windräder reflektiert wurden, und als ich das Dorf an der March erreichte, dampften die Ackerfurchen in der erwärmten Erde.“

Dem stehen auf der Habenseite nicht nur eine historisch spannende Geschichte gegenüber, sondern auch viele Nebenhandlungen und Abschweifungen. Sie verraten, wie groß Göttferts Antennen sind, wie viel Welt er zeigen will. So geht es unter anderem ums Komponieren, um Schach, die Bürden des Lehrerberufs, das Verhältnis zwischen Peripherie und Wien, einen rätselhaften Fährmann sowie um die versäumte Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs in vielen Familien.

„Steiners Geschichte“ ist ein Buch über zwei Familien: über die alten Steiners und über Ida und Martin samt Baby, denen am Schluss vielleicht ein Neuanfang glückt. Sicher ist man sich nicht. Göttfert zeichnet seine Hauptfiguren als isolierte Geschöpfe, die sich nur in einzelnen Momenten zu einem echten Paar zusammenfinden. Ein Happy End mit Fragezeichen. Und ein Roman, der viel verspricht und einiges hält. ■

Constantin Göttfert

Steiners Geschichte

Roman. 480S., geb., €20,60 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

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