Das Quietschen der Matratze

Was macht einen „amerikanischen Roman“ aus? Tanguy Viel hat die Ingredienzien analysiert, gemixt und eine Persiflage darauf fabriziert: „Das Verschwinden des Jim Sullivan“ – eine Humoreske.

Seit Jahrzehnten arbeiten sich Jungautoren in deutschsprachigen Landen daran ab, einen „amerikanischen Roman“ zu schreiben. Tutoren von Leipzig über Klagenfurt bis Bern bieten ihr Know-how im Verfassen der „Great American Novel“ an. Da kommt nun ein gut 40-jähriger Franzose, legt ein 120-seitiges Büchlein vor, und nennt es im Untertitel einen „amerikanischen Roman“. Das ist frech. Noch frecher und witziger ist aber, was Tanguy Viel mit seinem Roman „Das Verschwinden des Jim Sullivan“ gelungen ist: einen amerikanischen Roman und zugleich eine Persiflage darauf zu schreiben.

Dazu muss man wissen, dass Jim Sullivan ein Mythos der an Mythen nicht armen amerikanischen Popgeschichte ist. Der Singer-Songwriter fuhr im März 1975 von L. A. nach Nashville, um dort sein Glück zu versuchen. Zuletzt wurde er in Santa Rosa, New Mexico, gesehen. Nicht weit entfernt davon fand man auch seinen Wagen, aber niemals seine Leiche. Für jemanden, dessen einzig bekanntes Album U.F.O. heißt, ein Grund, Spekulationen über ein extraterrestrisches Verschwinden in Gang zu setzen. Und Stoff für einen amerikanischen Roman.

Was zeichnet einen solchen nun aus? Jedenfalls eine „globalere Betrachtung der Menschheit“, als es aus der kleinräumigen Perspektive europäischer Städte, sagen wir etwa Chartres, möglich ist. Zudem braucht man eine Hauptfigur, die möglichst folgende Eigenschaften aufweisen sollte: attraktiv, um die fünfzig, Professor an der Uni (Achtung: Campus-Roman), und meist trifft man auf diesen Helden, wenn sein „Gefühlsleben ein wenig durcheinandergeraten“ ist. Zudem nehme man ein paar uramerikanische Requisiten: am besten einen legendären Ami-Schlitten, in diesem Fall einen Dodge Coronet, Baujahr 1969 (Achtung: Woodstock!), sowie einen Sinn für Details, zum Beispiel „das Quietschen der Matratze oder das Mondlicht auf unruhigem Gesicht“.

Tanguy Viels Romanheld heißt Dwayne Koster, unterrichtet Amerikanische Literatur an einer Provinz-Uni und war verheiratet mit Susan Fraser. Ja, war. Denn zum Zeitpunkt, an dem wir auf ihn treffen, sitzt er 200 Meter (vom Scheidungsrichter angeordneter Sicherheitsabstand) von Susans Haus entfernt in seinem Dodge und beobachtet, wie sein Uni-Rivale Alex Dennis dort ein und aus geht. Dieser Einstieg gibt dem Autor die Möglichkeit zu „Flashbacks“, also der Schilderung etwa jener Szene, in der Dwayne Susan zum ersten Mal küsste, just in dem Augenblick, als Iggy Pops legendäres Konzert im Masonic Temple stattfand. Wichtige Momente im Leben eines amerikanischen Helden gehen stets einher mit berühmten Popkonzerten.

Überhaupt passieren in amerikanischen Romanen einschneidende persönliche Ereignisse stets an historischen Tagen. Prägend für Dwayne (und sein späteres Liebesleben, Achtung: Woody-Allen-Neurosen) war etwa, dass der noch nicht zehnjährige Knabe, als er via TV-Gerät (was sonst?) von der Ermordung John F. Kennedys erfuhr, durchs Haus lief, um den Eltern die Nachricht zu überbringen, plötzlich in deren Schlafzimmer steht und dort seine Mutter mit einem fremden Mann nackt ineinander verschlungen vorfindet. „Und hier, so meine ich, fing die ganze Geschichte wirklich an, 40 Jahre bevor Dwayne Koster vor Susans Haus Wache hielt.“ Während der Knabe jetzt natürlich nicht mehr verlautbart, dass Mister President tot ist, versucht der erwachsene Mann in dem Wagen mit beschlagener Windschutzscheibe, „seine bösen Gedanken in Jim Sullivans Songs aufzulösen“. Und beschließt, „sich wie ein Pilger in die Wüste zu begeben“, sprich dorthin zu fahren, wo Jim Sullivan verschwunden ist.

Seit 1993 der Hollywood-Altmeister Robert Altman seinen Streifen „Short Cuts“ vorstellte, entwickeln in amerikanischen Romanen meist zwei Ereignisse, eines am Beginn und eines am Ende, ein komplexes Geflecht von lose aneinandergefügten Handlungssträngen. Genauso treibt der 1973 in Brest geborene Tanguy Viel seinen Roman voran, stets mit einem Rekurs darauf, was das Amerikanische daran ist. Das ist nicht nur geschickt gemacht und sehr lustig, sondern erspart angehenden Literaten auch die Einschreibgebühr in den Kursus einer Schreibschule. Denn sie lernen neben allem anderen, das Leben Jim Sullivans mit jenem Dwayne Kosters zu verschränken. Wie das geht, wollen wir hier nicht mehr verraten, sondern stattdessen dringend die Lektüre dieses Kabinettstücks empfehlen. ■

Tanguy Viel

Das Verschwinden des Jim Sullivan

Ein amerikanischer Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. 128 S., geb., €17,40 (Wagenbach Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.