Nichtung, Lichtung

Ein Mann kauft ein verfallenes Haus im Wald. Dort lebt er abgeschieden mit seiner Tochter und für seine Tochter, mit der Vergangenheit und für die Vergangenheit. „Im Wald“: Marcel Mörings großer, „nächtig“ beeindruckender Roman.

Der Wald ist ein mythischer Ort. Er ist besetzt von einer großen, grausamen, romantischen Erzählung, in der Menschen verschwinden, verloren gehen und verzaubert werden. Im Wald gibt es Orte, die gefährlicher sind als der gefräßige, alles verschlingende tropische Dschungel. Aber der Oger des Nordens ist auch von zarten Wesen bevölkert, von Feen, von Helfertieren und guten Geistern. Und er ist der Ort, an dem alles, im Guten wie im Bösen, möglich ist. Im Wald herrschen andere Gesetze als im Rest der Welt. Marcel Mörings zweiter Teil seiner Romantrilogie, die sich an Dantes „Göttlicher Komödie“ orientiert, hat in der deutschen Übersetzung den Titel „Im Wald“. Im niederländischen Original heißt der Roman „Louteringsberg“ (Läuterungsberg).

„Im Wald“ verschwinden Menschen. Manche sind bereits verschwunden, bevor der Roman beginnt. Sie verschwanden im ersten Teil der Trilogie, „Der nächtige Ort“, oder noch früher, als die nationalsozialistischen Greuel auch die Niederlande erfassten. An diesen Greueln trägt das Personal der Romane endlos schwer. Dass Möring Dantes „Göttliche Komödie“ als Schirm über seine mehrteilige Erzählung spannt, wirkt wie ein irritierend irisierender Fluchtpunkt. Die Hölle, in der seine Romanfiguren verschwunden sind, braucht keine Metapher. Sie war konkret. Der Verweis lässt sie schrumpfen. Unabhängig davon ist es ebenso fesselnd wie lösend zu lesen, wie die Hauptfigur sich aufrappelt, wiederfindet und von einer tauben Hülle erneut zum lebendigen Menschen wird. Dieser Kampf um sich selbst und den jeweils anderen ist das Sujet des zweiten Teils der Trilogie.

Wir begegnen „Im Wald“ einem Mann, den wir bereits aus „Der nächtige Ort“ kennen oder zu kennen glauben. Marcus Kolpa ist Niederländer und Jude und Schriftsteller (vielleicht ist die Reihenfolge umgekehrt, vielleicht gibt es keine Reihenfolge, vielleicht ist das eine Nomen das Attribut des jeweils anderen). Er hat einen Roman geschrieben, der als Bestseller in gebildeten jüdischen Kreisen rund um die Welt Furore und Kolpa selbst zum Millionär gemacht hat. Jahre nach Erscheinen versichert eine Lektorin dem Autor in New York, dass der Roman das Lieblingsbuch ihrer Mutter gewesen sei. „Sie fand, es erzählt die Geschichte ihrer Familie. Genau wie ihre Freundinnen übrigens. Und mich“, so fährt Lila Adler fort, „hat die Vorstellung fasziniert, dass eine Erzählung die Geschichte so vieler Menschen sein konnte.“ Im Anschluss an dieses Debüt, an dem er schrieb, nachdem seine Frau Chaja spurlos verschwunden war, ist Marcus Kolpa verstummt. Er ist in jene alte Isolation zurückgefallen, die ihn umgab, bevor er eine Familie gründete und ein für ihn kaum fassbares Glück kennenlernte: Mit Chaja und der gemeinsamen Tochter Rebecca lebte er ein friedliches Leben, versorgte Kind und Haus und freute sich allabendlich auf seine heimkehrende, die Familie ernährende Frau.

Zu Beginn von „Im Wald“ erzählt uns der Schriftsteller, wie es dazu kam, dass er seinem Bedürfnis nach Isolation einen neuen Rahmen gab. Er kaufte ein verfallenes Haus im Wald, das er für sich und Rebecca herrichten ließ. Dort lebte er abgeschieden mit seiner Tochter und für seine Tochter, mit der Vergangenheit und für die Vergangenheit. Es gibt mehrere Geheimnisse in dieser Vergangenheit, ein namenloser, verschwundener Vater, eine verschwiegene Mutter, die sich plötzlich ins Gelobte Land aufmacht, und die spur- und scheinbar grundlos verschwundene Ehefrau.

Der Mann beginnt auszuforschen

Erst als Kolpa durch einen Fremden aus Haifa vom Tod seiner Mutter erfährt, bröckelt die Sprachlosigkeit. Damit nimmt die Erzählung einen anderen Verlauf. Kolpa verlässt seinen Ort der Isolation. Er beginnt zu forschen. Er sucht nach den Menschen. Wichtiger aber als die Lösungen seiner Lebensrätsel ist der Weg, den Kolpa, der eigentlich gar nicht Kolpa heißt, in diesem „Purgatorium“ durchläuft.

Es ist der Weg eines durch viele Taumata vom Leben Abgeschnittenen. Die Traumata sind eigene wie auch geerbte, Traumata eines Volkes und eines Individuums. Nur zwei Brücken verbinden dieses Mannes abgestorbene Existenz mit der lebendigen Gegenwart. Die eine ist seine Tochter Rebecca. Obwohl sie ohne Mutter aufgewachsen und von einem Vater erzogen worden ist, der unter allen erdenklichen Selbstbeschränkungen leidet, ist sie seltsam unbefangen geblieben. Sie scheint immun gegen die Hilflosigkeit ihrer Familie. Rebecca nähert sich allem mit unbelastetem Interesse. Ihr natürlicher Mut und ihre Neugier wirken wie ein Katalysator, der langsam auch auf den Vater übergreift. Rebecca ist fähig, sich die kindliche Neugier bis ins Erwachsenenalter zu bewahren und zu transformieren. Als Künstlerin gibt sie dem eine physische Gestalt, worüber der Vater, in seine Herkunft verstrickt, erneut verstummt ist. Sie schafft den „Läuterungsberg“. Die zweite Brücke ins Leben besteht in Kolpas Verhältnis zum Kochen. Kolpa liebt Lebensmittel, und er liebt es, sie zuzubereiten. Diese Neigung stammt genau wie seine Liebe zu Rebecca noch aus einer Zeit, als seine Frau Chaja, auch sie Kind traumatisierter, verfolgter Juden in „holländischer Verkleidung“, als lebendige Person in der Familie anwesend war.

Wenn Kolpa auch jede andere Liebe und jedes andere Interesse nach dem Verschwinden seiner Frau abhandengekommen sind, so ist es ihm doch auf geradezu märchenhafte Weise geglückt, diese beiden Brücken zur restlichen Welt zu erhalten. Sie dienen ihm während seines kompletten Rückzugs als Versorgungskanäle. Ihnen verdankt Kolpa es, dass er der Welt nicht ganz abhandenkommt, dass nicht auch er vollständig verschwindet.

Die episodenhafte Beschreibung des Lebens mit Rebecca ebenso wie die minutiösen (zum Nachkochen durchaus animierenden) Darstellungen der Menüzubereitungen stehen in hingebungsvollem, zuweilen vergnüglichem Gegensatz zu den mitunter mit Fragen überfrachteten Selbstreflexionen. Im Bereich der Rätsel, im Dickicht des Waldes wirken sie wie eine Lichtung, ein Ort der Wirklichkeit. Tatsächlich schimmert im letzten Drittel des Romans eine mögliche Lösung durch, eine zum Teil verblüffende, fast Götterfunken sprühende Lösung, die ein bisschen zu leicht für das zurückliegende Drama im Leben des Protagonisten wirkt.

Auf die Frage, wie es nach Marcus Kolpas Läuterung weitergeht, gibt der Autor Möring allerdings eine ebenso verblüffende Antwort: Es wird Kolpas Buch sein, der internationale Bestseller, der die Trilogie abschließen wird. Das Paradies als letzter Teil von Dantes „Göttlicher Komödie“ scheint für Marcel Möring in einer Herausforderung des Schicksals und in der Aufforderung der Wirklichkeit zu bestehen, sich die Fiktion als Beispiel zu nehmen. ■

Marcel Möring

Im Wald

Roman. Aus dem Niederländischen
von Helga van Beuningen. 512 S., geb.,
€ 23,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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