Und er redet nur über das Wetter

Sie beginnt am Schulhof und könnte gewöhnlicher nicht sein. Sie dauert keine Woche – und bestimmt doch das ganze Leben. Navid Kermani blickt zurück auf eine sehr „Große Liebe“.

Wenn ein Buch „Große Liebe“ heißt, dann erwartet man einen dicken Roman und ist erstaunt, wenn man ein eher „kleines“ Buch in der Hand hält. Aber was heißt schon „groß“? Hier geht es schließlich um eine Schulhofliebe, die genau genommen nur wenige Tage dauert.

Sie beginnt in der Raucherecke, in die derjenige, der sich so heftig verliebt hat, gar nicht darf. Er ist erst 15, das Objekt seiner Begierde immerhin 19, eine Abiturientin. Doch das macht nichts, für ihn ist sie „die Schönste des Schulhofs“. Eigentlich, sagt sein Autor, ist er „nicht mehr als ein Kind, das den Kopf ans Schaufenster eines teuren Geschäfts drückt“. Auch wenn es ein kühner Wunsch ist, gibt er die Hoffnung nicht auf, er könnte der „Schönsten“, von der er noch nicht einmal den Namen kennt, bald einen Kuss entlocken.

Tatsächlich, in einer Pause geschieht es: Die „Schönste“ spricht ihn an, sie hält ihn übrigens für älter. Und ihm, dem „närrisch“ in sie Verliebten, fällt nichts Besseres ein, als über das Wetter zu reden. Trotzdem glaubt er an die Liebe als Fügung – so wie sein Autor an die Macht der Worte. Epische Literatur schaut zurück, hat Navid Kermani in einem Interview angemerkt und damit auch begründet, warum ihm so an dem 15-Jährigen liegt, der ein wenig er selbst vor 30 Jahren gewesen sein könnte, gewesen ist.

Damals, das ist die Zeit der großen Demonstrationen in Westdeutschland, als die Frauen noch nicht rasiert waren und sich die Männer beim Pinkeln aus Solidarität hinhockten, als die, die die Welt verändern wollten, in Birkenstockschlapfen herumliefen und sich ihre Pullover selbst strickten. Genau in diesem Milieu, das einem heute mehr Schmunzeln als Verständnis abfordern möchte, findet die große Liebe statt, und es ist wohl das größte Plus dieses Textes, dass Kermani auch aus der Distanz diese Liebe so ernsthaft beschreibt, wie sein Protagonist sie damals empfunden hat.

Der eigentlichen Frage im Nachhinein wird nämlich überzeugend ausgewichen: Was die 19-Jährige mit dem 15-Jährigen, der nicht einmal alt genug für die Raucherecke ist, eigentlich anfangen soll. Soll sie ihn ins Zimmer ihrer WG, in die Hausbesetzerszene mitnehmen, ihn mit Marihuana vertraut machen? Natürlich muss sie ihn in die Liebe einführen. „Sei authentisch!“, sagt sie, geradezu ein Modewort dieser Zeit. Ebenso unerschrocken passiert das erste Mal, dem noch zwei weitere Male folgen, auf ihrem Matratzenlager, und er ist stolz, dass man es durch die geschlossene Tür hat hören können. Dass der Geruch von Räucherstäbchen essenziell dazugehört, macht die Geschichte fast anrührend.

Aber auch große Lieben enden, das ergibt schließlich den epischen Stoff. Und es ist eine – erwartbar – kurze Liebe: Vom ersten Kuss bis zur Trennung dauert es keine Woche. Der Trennungsschmerz dagegen dauert viel länger, „in gewisser Weise bis heute, sonst würde ich nicht unsere Geschichte erzählen“ – jene große Liebe, um die das Gedächtnis auch noch so lange danach so viel Aufhebens macht.

Da ist der Erzähler, der auf den Jungen, der er damals war, zurückblickt, schließlich auch durch den eigenen Sohn, der ebenfalls 15 ist, herausgefordert, wenn auch nicht so hilflos und entsetzt wie seine Eltern damals. Aber im Grund geht es um ihn selbst, um die Tatsache, dass er nie wieder so „groß“ geliebt und nie den Grund dafür gefunden hat, warum diese Liebe so plötzlich geendet hat.

Dabei möchte man ihm sagen: Doch, das kommt vor, jeden Tag, es ist ganz gewöhnlich. Eines Nachmittags ist die „Schönste“ nicht mehr für ihn da, sie geht nicht an die Tür, sie geht nicht ans Telefon, und der Junge weiß nicht, warum, er spürt nur, es ist aus. 30 Jahre später kommt ihm das wie gestern vor, so sehr hat es sich ihm eingebrannt. Und dann gibt es noch einen Brief, den die „Schönste der Schöpfung“ ihm damals geschrieben hat, einen Abschiedsbrief. Aber ihn hat er nie geöffnet, und so erfährt auch der Leser nicht, warum sie ihn verlassen hat. Der Leser soll von ihm nur wissen: „Größer hat er nie wieder geliebt.“

Immerhin setzt der Erzähler – er wechselt gekonnt Ich- und Er-Perspektive – der hemmungslosen Tagträumerei von damals analytische Distanz entgegen: „So ungern ich es mir eingestehe, war sie seine große Liebe, nicht er ihre.“ Das ist auch der Schluss, zu dem der Leser zwingend kommen muss, was aber nichts an der subjektiven Qualität dieser Liebe ändert. Kapitelweise unterlegt der Autor seine Geschichte mit Reflexionen orientalischer Denker und Mystiker und schafft so einen subtilen Paralleltext: viel Beschwörung von Wunder und Glückseligkeit, mitunter eine Hymne auf den Schmerz.

Doch wie relevant sind die Zitate islamischer Liebesdichter früherer Zeiten für diese Geschichte wirklich, wenn es nicht bloß darum geht, für dieses Ausnahmegefühl einen philosophischen Unterbau zu liefern, den Versuch einer Erklärung für etwas, was tief in der Kultur des Menschen liegt und dennoch nicht erklärbar ist?

Wenn im letzten Viertel des Buches noch intensiver „vom Sehnen und Verkümmern“ die Rede ist, beginnt man sich leise zu fragen, ob sich der Erzähler nicht vollends verrennt, wo doch eigentlich alles banal ist: Braucht es für einen verliebten Fünfzehnjährigen wirklich so viel Deutungshoheit? Ist der Titel des Buches nicht eine bewusste Anleihe an Groschenliteratur? Kermani geht mit diesem Genre dennoch kein Spiel ein, er lässt höchstens die Möglichkeit einer anderen Sichtweise anklingen und besteht mit der Konsequenz seines Textes darauf, Verliebtheit nicht mit Liebe zu verwechseln. So bleibt diese auch im Nachhinein „groß“. Denn was Liebe wirklich ist, hat Kermani in einem Interview gemeint, das weiß man ohnehin nicht nach einer Woche. ■

David Kermani

Große Liebe

Roman. 224 S., geb., € 19,50 (Hanser
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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