Der Wein verkauft sich gut

Im neuen Groll-Roman von Erwin Riess begibt sich der streitbare Rollstuhlfahrer mit Dozent Tritt, seinem gebildeten Sancho Pansa, auf die Reise durch die Wachau. Achtung: kein Heimatroman mit eingefügter Tourismuswerbung!

Für Krimiautoren ist es nicht ungewöhnlich, dass sie eine Figur – den Detektiv oder den Kommissar oder auch ermittelnde Laien – in ihren Romanen weiterleben lassen: Sherlock Holmes, Father Brown, Philip Marlowe, Hercule Poirot, Miss Marple, Maigret, Martin Beck, Simon Brenner et cetera. Erwin Riess schreibt keine Krimis, aber er hat in Herrn Groll seinen Helden gefunden, der ihn durch seine Bücher begleitet. Ihm bleibt er treu. In ihrer Gesamtheit könnte man diese Bücher, etwas fantasielos, als „Die Reisen des Herrn Groll“ zusammenfassen.

Der Titel des jüngsten Groll-Buchs bezieht seinen Witz, wenn man „das Ende“ zeitlich und nicht räumlich versteht, aus der Tatsache, dass man einem geografischen Begriff in der Regel Ewigkeit bescheinigt. „Das Ende der Wachau“ evoziert im Wortlaut (nicht literarisch) Oswald Wieners „Verbesserung von Mitteleuropa“. Anders als Sankt Petersburg, das tatsächlich ein (vorläufiges) Ende erleben konnte, weil es zu der Zeit, zu der Pudowkins Film „Das Ende von Sankt Petersburg“ spielt, zunächst zu Petrograd und später zu Leningrad wurde, scheint die Wachau unsterblich.

Erwin Riess ist ein entschieden politischer Autor im engsten Verständnis dieses Begriffs. Das macht er dem Leser, der ihn nicht kennt, auch diesmal gleich in den ersten Zeilen klar. Wer Riess und Herrn Groll schon länger verfolgt, begegnet hier dem vertrauten satirischen Duktus, der unvermittelt in die Beschreibung unverzerrter Wirklichkeit übergeht. Riess lässt seiner Wut gegen Dummheit, Gemeinheit und Niedertracht, heute und in der Vergangenheit, freien Lauf. Das nähert die Fiktion stellenweise der Polemik an, einer literarischen Form, die üblicherweise verteufelt wird, und zwar genau von jenen, die sie treffen soll. Eine Polemik ist eigentlich, ganz wertneutral, nichts anderes als eine heftige Auseinandersetzung auf literarischem, wissenschaftlichem oder politischem Gebiet, also im Sinn des Fortschritts wünschenswert. Gemeinhin aber wird der Begriff im Sinn einer unsachlichen, unfairen, wegen ihrer Übertreibungen auch in der Essenz missachtbaren Fehde verstanden. Was als Polemik qualifiziert wurde, muss nicht diskutiert werden.

Und jener, der sie äußerte, muss nicht ernst genommen werden. So ist man, wenn man schon den Menschen nicht beseitigen kann, wenigstens die unbequeme Wahrheit los. Die Diffamierung der Polemik, der „Streitschrift“, ist Ausdruck einer opportunistischen Konfliktscheu, des Drangs, alles unter den Teppich zu kehren, was Unannehmlichkeiten verursachen könnte. Wer „Das Ende der Wachau“ polemisch nennt, will sich das Bild bewahren, das die Koalition von Weintrinkern und Tourismuswerbern entwirft – und das hässliche Wahrheiten nicht zulässt.

Nicht ohne Bedeutung trägt der Ich-Erzähler den Namen Groll, und mit seinem Autor teilt er eine lebensbestimmende Erfahrung: Er ist auf den Rollstuhl angewiesen, in einer Welt, die dafür nicht eingerichtet ist. Von einem in New York lebenden Sizilianer namens Giordano, den Riess-Groll-Leser bereits kennen, erhält er per E-Mail den Auftrag, ein Buch zu schreiben. Es soll das Buch über die Wachau werden.

Immer wieder unterbricht Riess den Erzählfluss. Sein Roman folgt einer Struktur der assoziativen, manchmal auch sprunghaften Abschweifungen, die dem mündlichen Erzählen verwandter als der stringenten Verdichtung sind (darin, unter anderem, unterscheidet sich Riess von Krimiautoren).

Herr Groll zürnt im Rollstuhl

Diese Struktur spiegelt aber zugleich im Kleinen den Seriencharakter wider, den die Groll-Romane im Ganzen haben. Grundsätzlich sind sie weder am Rand noch an ihren Enden begrenzt. Es kann, wie in der Tradition des Schelmenromans, immer etwas Neues passieren, und alles, was passiert, ist gleichermaßen interessant, weil es, wiederum im Gegensatz zum Krimi, nicht auf eine Pointe zusteuert. Da finden die Renault-Arbeiter der 1930er-Jahre ebenso Platz wie Viktor Adler oder Hugo Portisch und Oskar Werner, wachaubedingt, sowieso.

Mit einem einfachen Trick ermöglicht Riess Dialoge, die an die Manier von Brechts Keuner-Geschichten erinnern: Er lässt Herrn Groll auf seiner bei ungewöhnlicher Hitze angetretenen Reise durch die Wachau, die „transdanubischen Weingebiete“, von einemDozenten begleiten, einem gebildeteren Sancho Pansa oder Leporello sozusagen. Klar, dass die gewählte Route Anlass zu allerlei anekdotischen Gesprächen liefert, nicht nur über den Wein, und was so mit ihm zusammenhängt. Dafür hat Riess viele historische Quellen, Bücher und Aufsätze studiert, darunter auch einen in der „Presse“ erschienenen Beitrag von Barbara Stelzl-Marx.

Manche Erkenntnisse und Formulierungen, das wollen wir nicht verschweigen, sind nicht gerade atemberaubend. Ein Beispiel: „Autobahnen dienen einzig dem schnellen Warentransport.“ Aber in der Regel dienen sie Riess als Einstieg in längere, durchaus witzige und erhellende Passagen.

Und was hat es nun mit der Wachau auf sich, dem „Weltkulturerbe“, der „Wohlfühllandschaft“? Klar, der Wein spielt im Roman eine prominente Rolle, unbenommen. Aber Riess lehrt vor allem, jenseits aller Satire, wie man eine Landschaft, deren Eckpunkte samt Weingütern und Restaurants er beim Namen nennt, politisch lesen kann, lesen sollte. Das mag den Politikern und erst recht den Tourismusmanagern nicht behagen. Aber dafür haben wir ja die Schriftsteller. Der nächste Groll-Roman wird sicher folgen. Vorläufig empfiehlt sich der aktuelle Roman als Pflichtlektüre am Bundesrealgymnasium Krems, das sich den Zielen der Unesco verpflichtet fühlt. Michael Häupl hat dieses Gymnasium besucht. Sechs Kilometer von der Schule entfernt befand sich das Kriegsgefangenenlager Gneixendorf.

„,Jetzt weiß ich endlich, warum es hier kein Denkmal gibt, nur zwei Gedenksteine ehemaliger Lagerinsassen‘, erwiderte ich. ,Von der Stadt Krems oder der Republik Österreich nicht einmal eine klitzekleine Tafel.‘ ,Hauptsache, der Wein verkauft sich gut‘, sagte der Dozent und steckte die Blätter wieder ein.“

In einem Epilog skizziert Riess das weitere Schicksal seiner Figuren. Das Buch, das Mister Giordano bestellt hat, kommt nicht zustande, weil dessen wohlhabender Gönner „vom FBI verhaftet und Stunden später in seiner Zelle tot aufgefunden worden sei“. Ironische Volte: Das steht in dem Roman, der nicht zustande gekommen ist.

Darauf folgt noch ein Absatz über Grigori Melechow, dessen Vater nach zweieinhalb Jahren Lagerhaft im Stalag XVII B 1944 von einem Mitglied der Lager-SS durch einen Genickschuss getötet worden ist: „Nach wie vor liegt jeden Tag am Ort der Ermordung von Grigoris Vater an der Zufahrtsstraße zum Kremser Flughafen eine rote Rose.“ Immerhin. ■

Erwin Riess

Herr Groll und das Ende der Wachau

Roman. 320S., geb., €21 (Otto Müller Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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