Es ist immer alles heute

Der Vater, der sich davongemacht hat. Die Mutter, die 20 Jahre schwieg. Die gescheiterte Ehe. Die Männer danach. Die beiden Söhne. Und „ein Mädchen mit verlorener Erinnerung“. Elke Laznias Roman „Kindheitswald“.

Eine Frau erfährt von der Krebserkrankung und vom bevorstehenden Tod ihres Vaters, der sich 30 Jahre zuvor aus ihrem Leben davongemacht hat und der sie nun um ein Treffen bittet. Sie sucht ihn im Krankenhaus auf und „man spricht, was man eben so spricht über ein Leben, in dem man einander nicht gekannt hat und nicht mehr kennen wird“.

Der Vater, von dem sie „nichts hat als das Gesicht. Die Augen, die dunklen Haare, die Gesichtszüge, ihm wie herausgeschnitten, haben alle gesagt“, mit dem sie nichts verbindet – und doch alles, was sie von ihren ersten Tagen an in sich herumträgt und von dem sie über seinen Tod hinaus – nicht loskommen wird.

„Ich werde zurückgehen, nur kurz, um zu schauen, was ist.“

Der Weg führt an die Orte früher Demütigungen und zu den Erlebnissen der ersten glückenden Weltaneignung im „Kindheitswald“, in dem sie „nicht gefunden wurde, weil niemand suchte“.

Die örtlichen Verhältnisse, damals und jetzt, die gesellschaftlichen Zurichtungen jener Zeit holen sie ein, die Enge der Menschen, an denen sie als Kind hätte wachsen sollen, und „die es schon immer gewusst und gesagt und gehört haben“.

„Geduzt werde ich, bin als Kind weggegangen von dort und komme 30 Jahre später als Kind zurück. Das Gaffen und das Gerede gilt immer“ noch ihr.

Die Mutter. Das 20-jährige Schweigen. Der Bruder, mit dem sie einmal hat sprechen können, in ihrer „Kindersprache“, aus der die beiden längst herausgewachsen sind. Sie unterschreibt, dass sie „auf alles verzichtet“. „Es hat sich ausgeheimatet.“

Die beiden Söhne. Die gescheiterte Ehe. Der Mann. Die Männer davor und danach. Das Dorf und die Frauen, und immer auch sie selbst: Alles wird Teil ihrer Erinnerungsarbeit. Sie ist „ein Mädchen mit verlorener Erinnerung, jetzt eine Frau, da ein Mädchen, es ist immer alles heute“, und es scheint immer alles gleichzeitig zu sein, immer beides, das Leben selbst und die Erinnerung daran. Fluchtversuche und Fluchten. „Ich möchte weggehen von diesem Dorf, weit weg, weg von den Ratten, weg von den Leuten, anderswo leben. Ich bleibe.“

Sie will vergessen, „ich vergesse die Namen der Männer, vergesse die Namen, die sie mir gaben, ich vergesse, was war“, und kann es doch nicht, ist sie sich doch ein einziges, ständig waches Gedächtnis. Und – weggegangen und eben doch nicht weggekommen, ist sie auch eine, die droht. „Ich werde zurückkommen und mit euren Männern schlafen, ich werde zurückkommen und euch entzweien. Damit ihr seht, was ihr seid.“

„Heute durchleuchte ich eure Leben.“ Die Sprache, in der sie das tut, durchdringt „Fenster, die blind sind von den Jahren und von den Geschichten, die uns widerfahren sind.“ Es ist eine Sprache, die die Lage der Menschen durchleuchtet und abbildet, die hinter diesen blinden Fenstern leben und hinter den Wänden, die aus Schweigen gemacht sind. Die dabei kenntlich werdenden Krankheitssymptome lassen auf die möglichen Ursachen dieser Kränkungen schließen.

„Geschichten trösten nicht“, hält die Erzählerin ihren vermeintlichen Widersachern entgegen. Und doch scheint es mir in diesem Roman nicht darum zu gehen, mit dem Zeigefinger in Wunden zu wühlen, sondern wohl eher darum, das aufzuspüren, was krank macht und verletzt, die Ursache für einen Schmerz zu finden und zu benennen und damit vielleicht auch heilbar zu machen, „dem Schmerz das Wort aus der Wunde zu klauben“.

Elke Laznias Roman ist eine Kartografie der Angst, eine Vermessung der Hürden um uns herum und in uns. Es ist ihre Sprache, die diese Hürden vermisst und darüber hinweghilft.

Das klarsichtige Erkennen gesellschaftlicher Zurüstungen jeglicher Art und deren ebenso klare Darstellung, von innen, von außen, mit Empörung und im Wissen darum, woher das kommt, was es zu berichten gilt.

Neben dem Apodiktischen gibt es in dieser Sprache immer auch die Zartheit der Empfindung, eine behutsame Rabiatheit, die anzieht und doch die Distanz einfordert, die einen klaren Blick erst ermöglicht. Kindlich direkt im Umgang, ist sie leicht und bewegt, spielerisch, nicht verspielt, und immer ist eine Hintergrund-Strahlung spürbar, in den Worten und in der Stille dazwischen, aus einem Leben, das der jeweils gerade geschilderten Gegenwart vorangegangen sein mag, und das die erzählte Geschichte vielleicht überhaupt erst bedingt.

„Ich lache über euch. Und zugleich über mich. Ich lache und weine über das, was wir waren, was wir uns waren.“

Der Befund der Erzählerin ist immer auch einer über sich selbst.

„Ich bin zugleich immer alle.“

So schonungslos und vielleicht trostlos ihr Befund auch erscheinen mag, ist er doch nicht von der Wirklichkeit abgehoben oder selbstgerecht, sondern schließt das Wissen um den eigenen Anteil an der Verstrickung mit den anderen mit ein.

Und: Aufgegeben wird nicht. „Ich warte. Dass einer kommt und mich anschaut und erkennt, mich versteht, ohne ein Wort, mein Schweigen entziffert, es übersetzt in eine mögliche Sprache oder die richtige Frage stellt, dass ich zu sprechen beginne.“ ■

Elke Laznia

Kindheitswald

Roman. 128S., geb., €19 (Müry Salzmann Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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