Daten sind besser als Taten

Dave Eggers widmet sich in seinem Roman „Der Circle“ der digitalen Umzingelung des „gläsernen Menschen“. Die Provinzpomeranze Mae Holland landet in einem global tätigen Internetkonzern und wirbt dort für totale Transparenz.

Bei Tierexperimenten vor mehr als 50 Jahren ließ man Affen auf Tasten drücken, um Daten zu ihrem Verhalten und ihren Fähigkeiten zu gewinnen. Das brave Versuchstier wurde fürs Kooperieren dann mit einem Goody belohnt – etwa einer Banane. Diese ist nun nicht mehr aktuell, das Tastendrücken aber verstärkt üblich, damit Daten gesammelt werden können. Nur sind nicht Laboraffen das Untersuchungsobjekt, sondern Menschen. Statt des Bananenlohns erhalten sie die Unterstützung ihrer körperlichen Trägheit und zunehmenden Denkfaulheit. So entstand die Computerökonomie, die seit Jahren die Welt in den Würgegriff nimmt.

Die gute Nachricht zuerst: Die gefräßigen Saurier sind verschwunden; bei Amazonien heißt es Land unter, nach dem Mist von Googlistan, dessen Manager samt Adepten im Guglhupf gelandet sind, kräht kein Hahn mehr, von Fressbook und Twitter gibt es kaum noch Splitter. Apple ist nur mehr als Plattenfirma der legendären Beatles für Musikhistoriker ein Begriff, Microsoft als Makroschuft verpönt, IBM steht für: Ist bereits Mesozoikum! Doch leider gibt es einen üblen Grund dafür: Ein noch weit aggressiverer Konzern hat in „Der Circle“ von Dave Eggers die ganze Macht an sich gerissen und diese Firmen überflüssig gemacht, indem er ihre Geschäftsfelder übernommen und die Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausgestattet hat, mit der alles abzuwickeln ist.

„Sich nicht mehr hundert Passwörter für die Verrichtungen des Alltags merken müssen!“ – diese Botschaft klingt doch überaus verlockend. Für viele Millionen und auch für die Landpomeranze Mae Holland. Die erhält durch eine Ex-Studienkollegin, die schon Karriere im „Circle“ gemacht hat, die Chance, dort einen Job zu ergattern. Ade, altes Leben, der Posten in den Strom- und Gaswerken ihres Heimatstädtchens ist rasch gekündigt. Ein Traum wird wahr: moderne Architektur, Gratis-Rundumbetreuung bis zur Hundetagesstätte, repräsentative Kunstwerke, Bibliothek. Und, und, und.

An ihrem ersten Arbeitstag glaubt Mae, im Paradies gelandet zu sein, zumindest in einer gleißenden Kathedrale des Fortschritts mit 10.000 Beschäftigten, die sich ein wenig als neue Priesterklasse fühlen, ist doch die Firma eine Mixtur aus Bewegung und religiöser Sekte, die weniger Ziele hat als vielmehr eine Mission. Das Mantra von Maes narzisstischer Generation, „Tutto, subito e gratis“, scheint hier realisiert. Wie schön! Nach der Arbeit gibt es Feste, die man gefälligst besuchen soll, mit Auftritten eines Zirkus oder eines Singer-Songwriters; auch Referate von Beschäftigten über den Stand ihrer Forschungsvorhaben gibt es zu hören. An der Firmenspitze steht das Gründungstriumvirat: der innovative und mysteriöse Erfinder Ty Gospadinov, der knallharte Kapitalist Tom Stenton und der auf seine verhuschte Weise dem Humanismus nachweinende Kommunikator Eamon Bailey. Darunter hat sich eine selbstironisch so genannte „Vierzigerbande“ als leitende Speckschicht versammelt, der angehören zu wollen von allen hier Tätigen erwartet wird. Nichts Neues also, aber Mae ist enthusiasmiert: „Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier hingegen war alles vollkommen.“

Diese Begeisterung Maes hält länger an, bald will sie sich durch besonderen Eifer emporwühlen. Von den Kunden bewertet, von oben permanent kontrolliert, stimmt sie freudig ihrer totalen Überwachung zu, denn „Privatsphäre ist Diebstahl!“, wie ein Firmenslogan lautet. Was soll die Welt machen, wennsie nicht sieht, was Mae Holland gerade tut? Nur beim Gang aufs Klo darf Mae die Aufzeichnung kurz unterbrechen. Sie unterwirft sich allen Anforderungen, beginnt, Karriere zu machen, und freut sich, als ihr die Firma verspricht, die Krankenversicherung ihres an MS leidenden Vaters zu übernehmen, wenn im Gegenzug Kameras im ganzen Elternhaus mitfilmen dürfen. Ihren früheren Freund verachtet sie nur mehr und wird ihn später mit der geballten Firmenmacht in den Tod hetzen.

Denn wer das Idyll einer totalen digitalen Weltübernahme stört, wird erledigt – wie die Senatorin Williamson, die das Quasimonopol von Circle zerschlagen will – auf deren Computer wird plötzlich übles „Zeug“ gefunden, das sie diskreditieren soll.

Dieser Totalitarismus wirkt nicht durch Unterdrückung des Individuums von oben, er kommt auf leisen Pfoten daher, rühmt sich als „zweite Aufklärung“ und bewirkt doch den Wiedereingang des Menschen in die selbst verschuldete Unmündigkeit. Dienlich sind ihm dabei sanfte Folterwerkzeuge wie Casting, Ranking, Imagepflege, Wettbewerb, Ruhmsucht und Allmachtswahn, die achselzuckend akzeptiert, ja internalisiert werden. Die Forderung nach voller Transparenz klingt ja gut, doch ihre Erfüllung schafft ungeahnte Probleme. Das muss Mae erfahren, als sie bei einer nicht „normalen“ Bootsfahrt von einem Kollegen gefilmt und bei der Polizei angezeigt wird.

Dave Eggers greift hier wie auch schon in „Zeitoun“ (2011) und „Ein Hologramm für den König“ (2013) auf den Nägeln brennende Themen der Zeit auf und verwandelt sie in Literatur – er ist ein im besten Sinn realistischer Autor. Das birgt beim rasenden Tempo der technologischen Entwicklung jedoch auch ein Gefahrenmoment: Produkte und Situationen, die beim Schreiben noch als dystopische Satire gedacht wurden, sind inzwischen zur Marktreife gediehen. Auch verzichtet Eggers auf psychologisierende Fragen, wie es mit den Menschen so weit kommen konnte. Eine Erklärung könnte sein: Der Uralt-Kapitalismus sah im Menschen das Subjekt der Produktion und behandelte ihn als Objekt, der digitale Kapitalismus definiert den Menschen als Objekt der Konsumption und preist ihn als Subjekt. Das klingt doch gleich viel besser und schwächt die Abwehrkräfte gegen diese Seuche. ■

Dave Eggers

Der Circle

Roman. Aus dem Amerikanischen von Ulrike von Wasel und Klaus
Timmermann. 560S., geb., €23,70 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2014)

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