Das raue Leben als Stiefkind in den Bergen

Ein Männer- und ein Frauenschicksal aus dem vorigen Jahrhundert: Kurzromane von Robert Seethaler und Isabella Feimer.

Es ist schon seltsam: Die Welt ist aus den Fugen, Seuchen, Überschwemmungen, Feuersbrünste, Staatspleiten und jede Menge Kriege beherrschen die Schlagzeilen – und was findet man in der österreichischen Gegenwartsliteratur? Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert vom einfachen Leben auf dem Land. Besonders auffallend ist die thematische Verwandtschaft zweier Neuerscheinungen. Sowohl in Isabella Feimers Roman „Zeit etwas Sonderbares“ als auch in Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ sind Stiefkinder, die in inneralpinen Gegenden ein beschwerliches Leben fristen, die Protagonisten.

Bei Seethaler nimmt ein Großbauer den unehelich geborenen Buben seiner flatterhaften Schwägerin in Kost und Quartier, als die von der Schwindsucht hinweggerafft wird. Der Herrscher über Hof und Gesinde behandelt den Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Knaben als Hilfsknecht, verachtet ihn und schlägt ihn zum Krüppel. Das verhindert nicht, dass der Bursche sehr kräftig wird und schon mit 14 Säcke von 60 Kilo auf den Getreideboden wuchtet. Kurz nach seinem 18. Geburtstag, als ihm der Bauer wegen eines Missgeschicks wieder einmal befiehlt, die Gerte einzuweichen, damit sie elastisch wird, verweigert der junge Mann die Züchtigung. Und wird vom Bauern des Hofes verwiesen.

Nicht wesentlich besser ergeht es Maria, der Stieftochter von Geza, den die Mutter geheiratet hat, damit jemand Geld ins Haus bringt, um ihre beiden Kinder zu ernähren. Isabella Feimers Heldin ist zu Beginn des Romans bald 50 und muss den nun bettlägerigen alten Stiefvater pflegen, weil sich ihre Stiefschwestern rechtzeitig aus dem Staub gemacht haben. Ihre beste Zeit liegt da lange zurück, es waren die Kriegsjahre, in denen sie der Reichsdeutsche Konrad nach Berlin geholt und geheiratet hat. Doch nach nur einer einzigen gemeinsam verbrachten Nacht fällt Konrad, und sie muss wieder zurück – aus der Weite der Reichshauptstadt in die Enge des alpinen Dorfs.

Heimatromane sind die beiden Bücher keine, aber auch keine Antiheimatromane, wie sie in den 1970ern verfasst worden sind. Das Leben auf dem Land ist für Andreas wie für Maria nicht deshalb so hart, weil die Dörfler dumpf und rau wären, sondern, weil sie Stiefkinder (des Schicksals) sind. Beide kämpfen sich aber nach oben: Der Knecht Andreas steigt zum Seilbahnarbeiter auf und sieht sich fortan „als kleines, aber gar nicht unwichtiges Rädchen einer gigantischen Maschine namens Fortschritt“; Maria wird zur Zeit des Dritten Reichs zur angesehenen Ehefrau eines Reichsdeutschen. Für beide ist die faschistische Epoche kein Unglück. Andreas lernt Marie kennen, baut sich eine Hütte und bekommt sogar eine Gehaltserhöhung für die Familiengründung. Maria wiederum „träumte sich in eine gemeinsame Zukunft, mit Kindern, immer lächelnd und immer fröhlich, und hübsch das Leben, das man führen würde.“ Doch eine Lawine verschüttet Marie und damit das kurze Glück von Andreas. Und eine Granate zerreißt das Herz Konrads und damit das kurze Glück Marias. Der Rest ist Leiden, wobei sich Andreas als Mann und zuletzt als wunderlicher Einsiedler etwas leichter tut als die Witwe Maria, die nach dem Tod des Stiefvaters mit dem Schwager liebäugelt.

Die Parallelitäten der beiden Romane sind auffallend. Beide umspannen etwa das kurze 20. Jahrhundert von 1914 bis 1989, beiden fehlt der sozialkritische Impetus einer „Alpensaga“. Der größte Unterschied liegt in der Erzählweise: Während Seethaler klassisch auktorial und schnörkellos erzählt, berichtet Feimer in einer zerhackten Kunstsprache, die die verschlungenen Gedankengänge und Assoziationen ihrer Heldin widerspiegeln, die, seit Juri Gagarin im All gewesen ist, vom „Mann im Mond“ träumt.
Warum aber berichten uns ein 1966 in Wien geborener Autor und eine 1976 in Mödling zur Welt gekommene Autorin von den Beschwernissen des alpinen Lebens im vorigen Jahrhundert? Steigt die Sehnsucht nach Einfachheit proportional mit der Zunahme an Komplexität des modernen Lebens? Ein Schuss Eskapismus gehört schon dazu, uns Lebensschicksale vor Augen zu führen, die es so heute nicht mehr geben könnte. Oder ist das Ausweichen auf Historisches als Memento zu verstehen, unsere heutigen komfortablen Lebensbedingungen nicht gering zu achten?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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