Die Furcht vor dem Fremden

In seinem Roman „Pfaueninsel“ erzählt Thomas Hettche das Märchen von einer Zwergin, die eine Königin erschreckt. In dem Moment, da die Kleinwüchsige als Monster und Bedrohung gesehen wird, hört die Geschichte auch auf, ein Märchen zu sein.

Ein gewisses Faible für Märchen schadet einem durchaus nicht, wenn man sich mit dem neuen Buch des deutschen Schriftstellers Thomas Hettche anfreunden will. Es beginnt mit der Begegnung einer Königin und eines Zwerges. In einer Gartenlandschaft, die paradiesischer nicht sein könnte, taucht der Kleinwüchsige plötzlich im Unterholz auf. Die Königin, sie heißt Luise und ist auf der Suche nach einem Ball, den sie im Spiel verloren hat, erschrickt. Als sie entdeckt, dass es sich bei dem kleinen Wesen nicht um ein Kind handelt, sondern um einen Erwachsenen mit tiefer Stimme, entfährt ihr ein Wort, das dem Roman seine Richtung gibt.
„Monster“, so erzählt der Zwerg zu Hause seiner Schwester, habe die Königin ausgerufen und dieses Wort pflanzt sich bei ihr, der Hauptfigur des Buches, ein. Maria Dorothea Strakon nennt Thomas Hettche die Zwergin, deren Lebensgeschichte er in seinem Roman erzählt. Im Rundherum hält sich der Autor weitgehend an historische Fakten. Nur die Zwergin baut er als fiktive Gestalt in die Geschichte der Pfaueninsel ein.
Die Pfaueninsel: Das ist ein Landschaftspark in der Havel, nicht mehr als 20 Kilometer vom Berliner Stadtzentrum entfernt. Schon im 17. Jahrhundert hat der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg auf der Insel eine Kaninchenzucht und ein Hegerhaus anlegen lassen. 1685 wurde die Insel dem Alchimisten und Goldmacher Johannes Kunckel übereignet, der dort geheimnisvolle Experimente mit verfärbtem Glas durchführte. 100 Jahre später ließ der preußische König Friedrich Wilhelm II. die Pfaueninsel mit zahlreichen Gebäuden bestücken und baute sie zu einem Landschaftspark aus.
Thomas Hettche setzt mit seiner Erzählung eine dynastische Generation später, im Jahr 1810, ein. Nur wenige Wochen, nachdem Königin Luise, die Ehefrau von Friedrich Wilhelm III., ihre Begegnung mit dem hässlichen Zwerg hatte, ist sie, die den Ort nie gemocht hat, tot. Von seinem Hofgärtner Ferdinand Finkelmann lässt der König die Pfaueninsel zu einem großen Zier- und Nutzgarten umbauen, nach der Niederlage gegen Napoleon wurde ihm die Insel immer wichtiger.
In diesem Roman erscheinen alle Figuren – auch die Insel selbst – in einer märchenhaften Pracht. Wer ein tatsächliches Bild der lokalen Topografie braucht, kann auf die Website www.pfaueninsel-roman.de gehen. Dort hat der Verlag eine interaktive Karte der Insel eingerichtet. Wenn man auf die entsprechenden Symbole drückt, hört man, was in Hettches Buch an welchem Ort passiert. Im Hintergrund vernimmt man ständig Vogelstimmen. Ich nehme an, das ist das Gurren der Pfauen. In seinem Roman fängt Hettche nicht nur die Stimmen, sondern vor allem die Stimmungslage des 19. Jahrhunderts ein.
Genau das wurde zu Recht an all seinen bisherigen Büchern gerühmt. In „Nox“ (1995) breitete der Autor die bundesdeutsche Befindlichkeit rund um den Fall der Berliner Mauer aus. In „Der Fall Arbogast“ (2001) machte er sich anhand der Schilderung eines berühmten Kriminalfalls über die deutschen 1950er-Jahre her. In „Woraus wir gemacht sind“ (2006) führte sein Weg dann am Vorabend von 9/11 in die USA.
Auch in „Pfaueninsel“ schürft Thomas Hettche tief und fördert etwas zutage, was in die Gründe und Abgründe der Mentalitätsgeschichte führt. Trotz oder gerade wegen seines märchenhaften Tonfalls ist dieses Buch eine Untersuchung der Vorgeschichte des Rassismus. Genau an diesem Punkt, nämlich dort, wo die Leute sie als Monster und Bedrohung sehen, hört auch die Geschichte der Zwergin auf, ein Märchen zu sein.
Der Gartenarchitekt Peter Joseph Lenné, unter dessen Regiment auf der Pfaueninsel mit der Ansiedlung von exotischen Pflanzen und Tieren das Spektakel Einzug hält, sieht die Zwergin als ein vollkommen nutzloses Wesen. Allein durch ihr Dasein stört die hässliche Gestalt die ausgefeilte und jetzt auch technisch hochgerüstete Ästhetik der Anlage. Noch verfügen der Mann und seine Zeit nicht über die Mittel, um daraus jene Maßnahmen abzuleiten, die dem 20. Jahrhundert seinen Schrecken verliehen haben. Die Vernichtung des anderen ist als Denkmodell noch nicht etabliert. Das gibt der Welt des 19. Jahrhunderts ihre Unschuld. Auf allen Seiten von Hettches Buch aber verbreitet sich die Erkenntnis, dass es als Konsequenz genau dessen folgen muss, was er in „Pfaueninsel“ beschreibt.
Zahlreiche essayistische Passagen zum Denken des 19. Jahrhunderts (von Hegel über Frankenstein bis zu langen Erörterungen über den Begriff des „Monsters“) sind in das Buch eingewoben. Das stört weniger als die vielen Stellen, an denen der Autor zum ganz großen Pathos greift. Schon die Art und Weise, wie Hettche uns auf den ersten Seiten darauf hinweisen zu müssen glaubt, dass jetzt ein Märchen kommt, ist übertrieben. Die simple Tatsache, dass es fortan um Königinnen und Zwerge und um eine Insel geht, die das Paradies ist (aber nicht bleiben wird), hätten wir auch mit bedeutend weniger erzählerischem Schmalz begriffen.
„Wir sagen: Die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.“ – Mit diesem nicht schlechten ersten Satz beginnt Hettche eines seiner Kapitel. Gleich in den nächsten Zeilen verpatzt dann aber ein fürchterliches Metaphernstakkato den schönen Einstieg. Von der „Temperatur der Dinge“ geht es über eine „Färbung, die alles durchdringt“ hin zu einem „Schleier, der alles verdeckt“. Am Ende der kurzen Sequenz finden wir uns „zugedeckt von der Zeit“ in einem „Setzkasten der Ewigkeit“. Kürzer und präziser hätte man sagen können, dass Erinnerung einem jeden von uns guttut.
Die „Pfaueninsel“ ist keine Erinnerung, sondern die Konstruktion einer Welt aus historischen Fakten, die aus unserer Gegenwart herausschimmern. Die ganze Geschichte der Pfaueninsel taucht in dem Roman auf. Die roten Gläser des Alchimisten, die ausgeleert in dessen ehemaliger Werkstatt liegen, werden ebenso ausgegraben wie die grandios neuzeitliche Dampfmaschine, die der König installieren ließ, um das Wasser nach oben zu pumpen. Nicht allein Tiere und Pflanzen, zu denen das Berliner Volk nach Öffnung der Anlage pilgerte, sondern auch Menschen wurden auf der Insel gesammelt: ein Riese aus der Südsee, ein tätowierter Schwarzer aus Afrika und eine Zwergin, die von sich behauptet, dass sie ein Hoffräulein sei.
Auf dem Jahrmarkt werden solche Menschen schon wenig später als „Abnormitäten“ bezeichnet werden. Auf der Pfaueninsel aber sind sie noch in einem anderen Rahmen gefasst. Die „Pfaueninsel“ ist ein Märchen, in dem die Katastrophe nicht im Zentrum steht, sondern erst am Horizont heraufdämmert. Genau das, wovon es lebt, macht uns dieses märchenhafte Buch verdächtig: der deutschen Märchen-Tümelei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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