Michelangelos Schneemann

Aphoristisch: Clemens J. Setz' „Gedichte“, die keine sind.

Clemens J. Setz gehört spätestens seit seinem Roman „Indigo“ zu den bedeutendsten Erzählern der österreichischen Literatur. Hätte man heute in Österreich die literarische Öffentlichkeit, die man, bei allem konservativen Mief, vor 50 Jahren hatte, dann erführe Setz die gleiche Aufmerksamkeit wie damals Peter Handke.

Jetzt kann man ihn auch als Lyriker kennenlernen. Als Lyriker? Auf dem Titelblatt steht jedenfalls „Gedichte“. Außer dem Zeilenumbruch und einer gelegentlichen strophischen Gliederung weist in dem schmalen Band „Die Vogelstraußtrompete“ allerdings nichts auf diese Gattung hin. Eher lesen sich die Texte wie kurze und kürzeste, noch nicht einmal rhythmisierte Prosastücke.

In seinem für die moderne Lyrik maßgeblichen Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“schreibt Bertolt Brecht, dass unregelmäßige Rhythmen ohne gestische Formulierung ihm nicht möglich schienen. Gestische Formulierungen – jedenfalls das, was Brecht darunter versteht – wird man bei Setz kaum entdecken. Brecht spricht auch davon, dass „diese freie Art, den Vers zu behandeln, eine große Verführung zur Formlosigkeit“ sei. Setz entginge dieser Gefahr, wenn er auf die Suggestion von Versen verzichtete. Das Satzbild als Gattungskriterium? Meinetwegen. Um Begriffe müssen wir uns nicht streiten. Aber hilfreich sind missverständliche Zuordnungen nicht.

Betrachten wir jedoch die „Gedichte“ als Kurzprosa, so entwickeln sie einen Reiz, der sich aus ihrer anekdotischen, aphoristischen oder momentaufnahmen-ähnlichen Aussage ergibt. Darin sind sie, um noch einmal, vielleicht ein wenig abwegig, Brecht zu bemühen, den „Geschichten vom Herrn Keuner“, aber auch,um einen Autor aus einer ganz anderen Richtung zu nennen, den Texten von Helmut Heißenbüttel verwandter als Brechts Gedichten. Da wird in zwölf Zeilen von dem „überaus schönen“ Schneemann erzählt, den Michelangelo nach der Lebensbeschreibung von Vasari im Innenhof des Medici-Palastes gebaut hat – ein treffliches Gleichnis für die Beziehung von Ästhetik und Material.

Ein Sprechen in Gleichnissen

Das Gedicht „Weltenlauf“ besteht aus nur drei Zeilen: „Und sie bewegt sich doch, / sagte der Jäger / nach dem verfehlten Schuss.“ Zunächst ist das nicht mehr als ein Kalauer. Aber „at second thaught“ kann man es doch wiederum als Gleichnis verstehen – für die Borniertheit subjektiver Wahrnehmung, für die Abgabe von Verantwortung, für die Trivialisierung einer einst weltbewegten und weltbewegenden Erkenntnis.

Die Gedichte von Setz, die keine Gedichte sind (in fünf Fällen verzichtet er tatsächlich auf den Zeilensprung), unterscheiden sich in ihrem Tonfall grundlegend von jenem Schnoddersound, der allgegenwärtig der Bezichtigung des Antiquierten zuvorzukommen hofft. Der Jazzfan versteht den elegischen Wunsch, Gershwins „My Man's Gone Now“ so spielen zu können wie Bill Evans 1961 im Village Vanguard. Die überraschende Pointe folgt in den abschließenden zwei „Versen“: Es müsste nicht genau damals, an dem Sonntag im Jahr 1961 gewesen sein, „aber doch zumindest irgendwann / weit in der Vergangenheit“. Das Erstaunliche daran: Das schreibt einer, der 1982 geboren wurde. Da war Bill Evans (der Pianist, nicht der Saxofonist gleichen Namens) schon zwei Jahre tot.

Einmal übrigens sieht sich Setz zu einem trochäischen Metrum genötigt. Da folgt er einem Song von Suzanne Vega. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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