Wall Street, wir haben ein Problem

Selten wurde gesellschaftlicher Wandel so einfühlsam, verständlich und packend beschrieben wie in George Packers Buch „Die Abwicklung“. Der Journalist erzählt darin anhand von einem Dutzend Porträts über Veränderungen im US-amerikanischen Alltag.

Apokalyptisches Amerika: Die öffentliche Ordnung kollabiert, in den Städten kämpfen kriminelle Banden um die Vorherrschaft. Auch Stadt und Land erheben sich gegeneinander, der ganze Staat bricht auseinander. Not und Elend, nur die Rücksichtslosen und die Starken überleben. Wir kennen solche Horrorvisionen aus vielen Büchern und Filmen – aber sind die Vereinigten Staaten tatsächlich schon auf dem Weg dorthin, wie sich das gerade in Europa so viele wünschen würden (fragen Sie doch einmal Wladimir Putin oder H. C. Strache)?
Nein, so weit geht George Packer nicht. Aber der kalifornischstämmige Journalist vom Intellektuellenmagazin „New Yorker“ sieht sein Heimatland doch in einer Abwärtsspirale, die schon in den 1970er-Jahren eingesetzt habe, als nach dem Ölschock die Löhne zu stagnieren begannen, die amerikanische Mittelklasse erste Auflösungserscheinungen zeigte und die traditionellen Institutionen Risse bekamen. Was all die Untergangspropheten inner- und außerhalb der USA indes immer wieder übersehen, ist die ungeheure Kreativität und Zähigkeit, die in diesem Land steckt und die dazu führt, dass sich die Vereinigten Staaten immer wieder aufrichten, wenn sie gestürzt sind.
Für amerikanische Kreativität ist der Autor selbst ein Paradebeispiel: Selten hat man tief greifenden gesellschaftlichen Wandel in einem Land so einfühlsam, verständlich und fesselnd beschrieben. Packer präsentiert keine zähen soziologischen Analysen des sozialen und ökonomischen Umbruchs seit den 1960er-Jahren, sondern er erzählt anhand von einem Dutzend Porträts die vielen Veränderungen, die es in den vergangenen Jahrzehnten im amerikanischen Alltag gegeben hat. Neun der beschriebenen Personen sind Berühmtheiten, aber die tragenden Figuren des Buches sind eine schwarze Fließbandarbeiterin aus Youngstown (Ohio), ein Politikberater aus dem Umfeld des heutigen Vizepräsidenten, Joe Biden, und ein Kleinunternehmer, der immer wieder scheitert, aber es danach stets von Neuem versucht.
Zudem richtet Packer seinen journalistischen Röntgenblick auf Brennpunkte der gesellschaftlichen Veränderungen in den USA: die untergegangene Stahlstadt Youngstown, das Hirn des IT-Booms, Silicon Valley, die Stadt Tampa (Florida) als Musterbeispiel für eine geradezu paranoide Stadtplanung, die Wall Street als Herz der Finanzindustrie und die Korridore der Weltmacht in Washington.
Das Geschehen in den einzelnen Kapiteln sowie die Porträts sind auf gekonnte Weise ineinander verwoben. Wobei Packer eigentlich nie direkt Partei ergreift: Er lässt seine Protagonisten zu Wort kommen. Freilich wird schon klar, welchen Ansichten und Personen seine eigenen Sympathien gelten. Jedenfalls nicht dem rechten republikanischen Rabauken und Oberheuchler Newt Gingrich; auch nicht dem Kaufhausmagnaten Sam Walton, der mit seiner Geschäftsphilosophie („Billig einkaufen, billig abgeben, große Mengen, schneller Durchsatz“) und mit seinem Geiz Mitte der 1980er-Jahre zum reichsten Mann Amerikas wurde.
Dazu kommt, dass Packer wirklich sehr gut schreiben kann, und Gregor Hens hat dieses schriftstellerische Können vortrefflich in die deutsche Sprache herübergerettet. Kein Wunder bei all dem also, dass „die Abwicklung“ in den USA mit dem „National Book Award“ ausgezeichnet wurde und das Buch gerade auch in den Sachbuch-Bestsellerlisten des deutschen Sprachraumes immer weiter nach oben klettert.
Als roter Faden durchziehen das Buch der Zerfall wichtiger Institutionen und die parallel dazu wachsende Gier der Wall Street. 50 Jahre lang, zitiert Packer die Harvard-Professorin und Senatorin Elizabeth Warren, hätten drei Regeln größere finanzielle Turbulenzen verhindert. Erstens: Der Staat versichert die Spareinlagen (FDIC – Federal Deposit Insurance Corporation). Zweitens: Die Banken machen keine verrückten Sachen mit dem Geld der Sparer (Glass-Steagall). Drittens: Der Aktienhandel wird streng kontrolliert (SEC – Security and Exchange Commission). In den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren begann die Politik, diese Kontrollregeln auf Druck der Finanzindustrie immer weiter abzubauen. Die Folge: „Die Gewinne der Banken stiegen enorm, die Boni der Manager noch viel mehr, das Risiko wurde stratosphärisch. Dann stürzte alles wieder zur Erde, und die Banker traten vor das amerikanische Volk und sagten: ,Oh Mann, wir haben hier ein echtes Problem, ihr müsst uns retten, sonst gehen wir alle unter.‘ Und das amerikanische Volk rettete die Banken.“
Die Verantwortlichen für die Finanzkatastrophe ab 2007/2008 aber kamen weitgehend ungeschoren davon, gegen keine der großen Banken gab es eine Strafanzeige. Und auch Präsident Barack Obama versammelte einen Wall-Street-freundlichen Beraterstab um sich, der sich zwar der Anliegen der Finanzindustrie annimmt, „der aber völlig ideenlos ist, wenn es um Arbeitsplätze für ganz normale Bürger geht“.
Die Anklage gegen die allmächtig gewordene Finanzindustrie, die via Lobbyisten auch die heute in Washington Regierenden fest in der Hand hat, kann man gut nachvollziehen. Allerdings wirken die langen Passagen über die Bewegung Occupy Wall Street in Packers Buch heute seltsam deplatziert. Was haben die lärmenden Aktionen der Demonstranten vom New Yorker Zuccotti Park denn konkret gebracht?
Auch sind jene Ausschnitte, die Packer beschreibt, nur ein Teil des amerikanischen Wandels. Wie ist es etwa mit der Militarisierung jetzt auch der inneren amerikanischen Ordnungsmacht, die sich gerade in den vergangenen Tagen in Ferguson so erschreckend manifestierte? Wie ist das mit dem monströsen Spitzelapparat, den der Staat aufgebaut hat und der seine Lauscher auch gegen die eigenen Bürger richtet? Wie ist das mit der Radikalisierung der politischen Lager, die eine Zusammenarbeit der Parteien zum Wohl des Landes immer unmöglicher macht? Mister Packer, es gibt noch viel über Amerikas Wandel zu berichten, packen Sie es an. Sie können das sehr gut. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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