Der Weg zur Quelle

Der 1964 in London geborene Sadakat Kadri ist Autor und Menschenrechtsanwalt. Auf diesen zwei Beinen fußt sein Buch „Himmel auf Erden“, eine detailreiche Geschichte des islamischen Rechts, der Scharia.

Dieses Buch gibt sich als Versuch, die Entwicklung der Scharia, also des islamischen Rechts, von seiner Entstehung bis ins Heute (also über 14 Jahrhunderte hinweg) darzustellen. Unternommen hat ihn der Menschenrechtsanwalt Sadakat Kadri (Autor, Reiseschriftsteller und Journalist), der nun in London lebt und arbeitet. Er recherchierte für sein Buch „The Trial: A History, from Socrates to O.J. Simpson“, als am 11. September 2001, ganz in der Nähe seines Büros in Manhattan, zwei von jungen muslimischen Fundamentalisten gelenkte Flugzeuge das World Trade Center zum Einsturz brachten. Das habe ihn dazu bewogen, meint er, sich genauer mit der Scharia und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, gerade weil sie inzwischen so in Verruf geraten ist, dass schon das Wort allein bei vielen Menschen eine Gänsehaut erzeugt.

Mit „Himmel auf Erden“ ist es Kadri gelungen, diese Gänsehaut zu glätten, schon allein deswegen, weil keine Gänsehaut 384 mit interessanten Informationen voll gepackte Seiten lang durchhält. Schon gar nicht, wenn diese Seiten dazu angetan sind, sie nur ungern aus der Hand zu legen. Das hat nicht nur mit der erzählerischen Qualität, sondern auch damit zu tun, dass man auf eine Fülle von Details stößt, die einem, selbst wenn man sich schon länger für das Thema interessiert hat, nicht bekannt waren.

Kadri (1964 als Sohn einer Finnin und eines aus Pakistan zugewanderten Muslims in London geboren) nahm sich für dieses Buch eine längere Auszeit, nicht nur zum Lesen all der Quellen, die in einem solchen Fall herangezogen werden müssen, sondern er bereiste auch fünf Monate lang Länder, in denen die Scharia eine Rolle gespielt hat oder noch immer spielt. Diese Reise führte ihn von Pakistan über den Iran, Syrien, die Türkei, Saudiarabien bis nach Ägypten, was viele Begegnungen mit sich brachte, bei denen auch die diversen Observanzformen der Scharia zur Sprache kamen. Dass dabei auch der Witz nicht zu kurz kommt, ist dem Schriftsteller Kadri zu verdanken, während die Gründlichkeit der Recherche wohl eher auf das Konto des Juristen Kadri geht.

Scharia (das Wort bedeutete ursprünglich „Weg zur Wasserquelle“, aber auch „den Weg weisen“) basiert auf dem Koran. Weil aber im Koran nur einige der menschlichen Vergehen dezidiert behandelt werden, wurde zur Erstellung des islamischen Rechts auch die Sunna herangezogen, eine Sammlung von Aussprüchen (Hadith) aus dem Mund des Propheten oder der ersten Generation der Salafis (der Rechtgeleiteten) aus seiner unmittelbaren Umgebung. Da die Vorbehalte gegen die Verschriftlichung zu jener Zeit nicht nur bei Nomaden groß waren (nach altarabischer Überzeugung sollte jede Weisheit, die man sich zu eigen machen will, auswendig gelernt werden), existierte selbst der Koran eine Zeit lang vor allem als mündliche Überlieferung. Der erste Kalif, Abu Bakr, bestand schließlich darauf, ein Buch daraus zu machen, hatten doch Zoroastrier, Juden und Christen schon längst das jeweils ihre. Und so brachte er einen Mann aus Mohammeds Umfeld dazu, „Gottes Stimme auf etwas Schriftliches zu reduzieren“. Laut dem großen Hadith-Gelehrten al-Bukhari (der 200 Jahre später lebte) „wurde der Koran aus Notaten auf Pergament, Schulterblättern, Blattstielen von Dattelpalmen und der Erinnerung der Menschen zusammengestellt“.

Wesentlich länger, nämlich bis ins späte 9. Jahrhundert, dauerte es, bis die schriftliche Zusammenstellung, Sichtung und Redaktion der Hadith erfolgte. Somit erhielt die orthodoxe Version der Ursprünge des Islam erst an die 300 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen ihre endgültige Form (ähnlich dem Neuen Testament, das auch erst im 4. Jahrhundert kodifiziert wurde). Kadri berücksichtigt in seiner Darstellung so gut wie alles, was zur Entwicklung und Veränderung der Scharia beigetragen hat, vor allem die vier großen Rechtsschulen (Kadri spricht vonfünf, aber Mutazilia und Aschariya gehören eher zum theologisch-philosophischen Bereich) und die „Schließung des Deutungstors“ (beim Orientalisten J. Chr. Bürgel „Das Tor des Bemühens“) bab al-ijtihad, das heißt den Weg eigenständiger Benutzung der Rechtsquellen und unabhängiger Urteilsfindung. Ein Prozess hin zum Fundamentalistischen, den Bürgel ab dem Jahr 900 bemerkt haben will, während Kadri ihn ein Jahrhundert später, nach dem Tod von al-Ghazali, ansetzt. Die Spaltung in Sunna und Schia sowie einen Gelehrten namens Ibn Taymiyya, der nach der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen (1258) den zunehmenden Fundamentalismus wortkräftig formuliert hat (vieleder heutigen Salafisten, vor allem die Wahhabiten, berufen sich auf ihn), dazu auch den Gründer der Muslimbrüderschaft, Hassan al-Banna, und all jene, die die Scharia zu einer Strenge zurückführen wollten und wollen, für die es nur wenige Beispiele aus der Zeit ihrer Entstehung gibt.

Kadri hält jedoch die Verschriftlichung von Koran und Sunna (794 entstand die erste Papiermühle außerhalb von China in Bagdad) einerseits sowie die Einführung der modernen Medien, vorrangig des Internets, andererseits für die tiefsten Einschnitte in der Geschichte der Scharia. Einst hatte man befürchtet, dass die Rechtsgelehrten überflüssig werden könnten, heute werden es dagegen immer mehr (selbst ernannte inklusive), und man kann sich via Internet zu allem und jedem (ob etwa Cunnilingus zwischen Eheleuten erlaubt sei oder nicht) eine Fatwa erstellen lassen. Was nur zu noch mehrReglementierung menschlicher Lebensäußerungen führt und gleichzeitig jede Art von Schnellzugang zu einem Instant-Islam für Terroristen bereitstellt.

Als Menschenrechtsanwalt ist sich Kadri des ganzen Elends wohl bewusst, das der politisch motivierte, fundamentalistische Terrorismus vor allem über die Muslime gebracht hat. Dennoch ist er als Jurist dagegen, dies alles zur Gänze der Scharia anzulasten, derenVielfalt einem dieses Buch bewusst macht. Eine Rechtsordnung, die, verglichen mit der westlichen Strafrechtsordnung, jahrhundertelang die Nase in puncto Menschlichkeit vorn hatte. Auch zu einer Zeit, als die Kreuzritter in Jerusalem noch mit Gottesurteilen arbeiteten, während die rationaleren muslimischen Richter bereits mit Zeugen und Geschworenen, mit vom Koran vorgegebenen und mit Ermessensstrafen aufwarteten, und Körperstrafen selten angewendet wurden. So soll die Steinigung in der 500-jährigen Herrschaft der Osmanen, soweit sich das nachweisen lässt, nur ein einziges Mal vollzogen worden sein.

Aber welche Schlüsse auch immer man aus der Darstellung der Scharia in diesem Buch ziehen mag, eines wird man zugeben müssen: Die Lektüre hat sich gelohnt. ■

Sadakat Kadri

Himmel auf Erden

Eine Reise auf den Spuren der Scharia durch die Wüsten des alten Arabien zu den Straßen der muslimischen Moderne. Aus dem Englischen von Ilse Utz. 384 S., geb., €30,80 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2014)

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