Der Geist von Wien

Sieger und Besiegte sind untaug-liche Begriffe. In einer Friedenskonferenz spricht man über den Frieden und nicht über den vorhergegangenen Krieg. Das war das Geheimnis des Erfolgs beim „Wiener Kongress“, der vor 200 Jahren festlich eröffnet wurde.

Nur wenige Historiker haben eine so spannende Karriere vorzuweisen wie Charles Webster, Liverpooler Professor für neuere Geschichte. Als Sekretär des britischen War Office war er bei den Friedensverträgen am Ende des Ersten Weltkriegs Mitglied der Delegation der Siegermächte. Bereits im Mai 1918 erhielt er von seinen Vorgesetzten im Kriegsministerium den Auftrag, einen Bericht über den Wiener Kongress von 1814/15 vorzubereiten. Offensichtlich machte man sich auf Siegerseite bereits Gedanken über die Organisation einer Friedenskonferenz und wollte vorbereitet sein. Lernen aus der Geschichte? Hegel meinte skeptisch, aus der Geschichte sei nur zu lernen, dass Völker und Staaten nichts aus ihr lernten. Das wird sich Charles Webster auch gedacht haben, als er drei Jahrzehnte später nach neuerlichen Hekatomben von Kriegstoten an den Gründungskonferenzen der UNO teilnahm. Die Pariser Vororteverträge von 1919 hatten sich als Quelle andauernder Friedlosigkeit erwiesen: „A peace to end peace“. Die Arbeit des Historikers, der Rekurs auf den Wiener Kongress, hatte nichts gefruchtet.

In der historischen Tradition des europäischen Kontinents haben Friedensschlüsse tiefe Zäsuren hinterlassen. 1648 gelang die Entzerrung konfessioneller Fundamentalkonflikte, es kam zu einem wohlüberlegten Gesamtausgleich. 1714, am Ende des Spanischen Erbfolgekriegs, führte eine ähnliche Kraftanstrengung zu einer konstitutiven Verankerung des Systems des Gleichgewichts der Kräfte. Exakt 100 Jahre später, im Herbst 1814, trafen sich Europas Monarchen, Staatsmänner und Diplomaten zum Wiener Kongress, der nichts Geringeres als die epochale Aufgabe der Neuordnung Europas zu leisten hatte.

Der Kontinent war 1814 eine „monströse Baustelle“ (Sloterdijk), die Welt mit Hamlets Worten „aus den Fugen“. Die alte europäische Staatenwelt war durch die Französische Revolution und den hybriden Hegemonialanspruch Napoleons destabilisiert. Permanenter Tumult hat seit 1789 die alten stabilen Kreisläufe abgelöst, Grenzen und Staaten verschoben, Monarchen abgesetzt; totalitäre Kriege, die ersten ihrer Art, verwüsteten den europäischen Raum von Gibraltar bis Moskau heillos, die napoleonische Feldzugsgeschichte über knapp zwei Jahrzehnte kostete Millionen Opfer. Das hatte man seit dem 30-jährigen Krieg nicht mehr erlebt.

Erst der Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 führte zum Zusammenbruch des Grand Empire. Eigentlich hätte man alles gleich in Paris, der Hauptstadt des besiegten Frankreich, regeln können. Die in der Anti-Napoleon-Koalition vereinten siegreichen Monarchen–Österreichs Kaiser, Franz I., der russische Zar, Alexander I., Preußens König, Friedrich Wilhelm III. – hätten im Mai 1814 beim Pariser Friedensschluss die Grundzüge einer nachnapoleonischen Ordnung festlegen können, dazu waren aber die Probleme zu komplex. Das Unwetter, das den Kontinent heimgesucht hatte, war so schwer gewesen, dass die Wellen noch allzu hoch gingen.

Geeint im Kampf gegen Napoleon

Der gemeinsame Feind war geschlagen, die dynastischen Ambitionen, die Gier nach territorialer Ausdehnung waren bei den Siegermächten Russland, England, Preußen, Österreich unverändert da. Doch nicht auf dem Schlachtfeld sollten die Streitpunkte ausgetragen werden, sondern am runden Tisch, bei einem Friedenskongress in Wien, zu dem alle eingeladen wurden, die sich am Kampf gegen Napoleon beteiligt hatten. Die Ambition des Kongresses war ungeheuerlich, sein Unterfangen gewaltig: eine neue politische Geografie des Kontinents zu entwerfen, stabilisierend und ausgleichend zu wirken, ein System von europäischen Sicherheitsgarantien zu entwerfen, Europa endlich wieder Ruhe zu verschaffen; alles im Bewusstsein, dass man nach 20 Jahren Revolution und Krieg nicht einfach unbesehen auf die alten Verhältnisse zurückgreifen konnte. Machtrivalitäten sollten von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit abgelöst werden.

Alle Souveräne des Kontinents kamen nach Wien, mit ihren Ministern, Diplomaten, Juristen, Sekretären, eine friedliche Heerschar von schätzungsweise 20.000 Menschen, die direkt oder indirekt mit dem Kongress zu tun hatten, alle fest gewillt, ihre Interessen uneingeschränkt durchzusetzen. Das konnte im günstigsten Fall nur mit einer jahrelangen Verhandlungsblockade enden, im schlimmsten mit einem neuerlichen Kriegsszenario. Der russische Zar verlangte als Befreier des Kontinents mit Nachdruck Polen als seinen geopolitischen Lohn, England wollte einen beruhigten neutralisierten Großmächtestatus, um von freien Märkten zu profitieren, Preußen wollte Sachsen annektieren, die österreichischen Gastgeber wollten die zentrale Position, die sie am Verhandlungstisch einnahmen, innerhalb des europäischen Gleichgewichts in Zukunft beibehalten. Das war eine verdammt explosive Mischung. Trotzdem gelang es, das ersehnte neue Regelwerk, die Einhaltung einer Balance unter den Staaten und damit einen dauernden Frieden durchzusetzen. Hatten Pragmatiker und vernünftige Kräfte die Oberhand erlangt, gab es einen „Geist von Wien“?

An Weitsicht und Besonnenheit haben die Friedensverhandler von Wien jene von Versailles 1919 zweifellos übertroffen. Frankreich hätte als Kriegsverlierer aller Logik nach ausgeschlossen und mit harten Repressalien bestraft werden müssen. Stattdessen wurde der französische Außenminister, Talleyrand, ein genialer Diplomat und geistreicher Causeur, einer der politischen und gesellschaftlichen Stars in Wien. Die „Bestrafung“ Frankreichs bestand darin, dass es auf die Grenzen bei Ausbruch der Revolution zurückgedrängt, der französische Vertreter aber nicht als Störenfried und Aggressor, sondern als satisfaktionsfähiger Verhandlungspartner betrachtet wurde. Maxime des Kongresses war nicht Rache, sondern Ehre und Interesse aller Mächte Europas zu achten, dazu gehörte auch Frankreich, sofern es sich friedlich verhielt und die alten Dämonen nicht mehr hochkommen ließ. So agierten an den Verhandlungstischen fünf Großmächte, keiner musste sich ausgegrenzt fühlen. Das war der „Geist von Wien“: Sieger und Besiegte sind untaugliche Begriffe, in einer Friedenskonferenz spricht man über den Frieden und nicht über den vorhergegangenen Krieg.

Ohne den österreichischen Staatskanzler Metternich wäre das größte diplomatische Treffen aller Zeiten wohl nicht zustande gekommen, er wurde seither „Schiedsrichter Europas“ genannt. Man brauchte jemanden, der die Zügel in der Hand hielt, um zähe und langwierige Verhandlungen, in denen sich die Parteien womöglich blockierten, zu verhindern. Große Plenarsitzungen wurden daher vermieden, die Entscheidungen wurden von den Ministern in eigens einberufenen Separatkonferenzen verhandelt und dann dem allgemeinen Kongress vorgelegt, der sie möglichst ohne lange Diskussionen durchzuwinken hatte. Eine Handvoll kluger Pragmatiker, Metternich für Österreich, Lord Castlereagh für England, Talleyrand für Frankreich, Graf Nesselrode für Russland, Hardenberg und Humboldt für Preußen übernahmen die Verantwortung für die Neugestaltung Europas. Nicht wenige Historiker erinnert das an den Sicherheitsrat der UNO: Supermächte, die zusammentreten, um Krisenherde zu entschärfen.

Aristokraten als öffentliche Personen legen – wie uns Goethes Wilhelm Meister erklärt – bei ernsthaften Dingen eine Art von leichtsinniger Grazie an den Tag. Das war die Haltung der virtuosen Improvisateure beim Wiener Kongress: Nichts überstürzen, die Eröffnung wird ständig verschoben, wenn die Verhandlungen stocken, schiebt man ein paar Redouten ein, Ungeduld führt zu nichts. So entstand in der Überlieferung das Bild eines ausufernden Festes, der schmausende Kongress, der erotische Kongress, der tanzende Kongress. Durch diese kollektive Entspannung – wie uns Eberhard Straub in seinem virtuosen Text über den „Tanz in das wiedergewonnene Europa“ erklärt – wurde erreicht, dass die „wechselnden Vergangenheiten keine Macht über die Gegenwart haben“, das festliche Treiben wurde zum „Ausdruck einer versöhnenden Verheißung“, darin sei der „sittliche Kern der ausschweifenden Vergnügungen“ zu finden.

Die Bücher des Wiener Historikers Hannes Etzlstorfer und des Duos Anna Ehrlich/Christa Bauer liefern all die Geschichtchen und Anekdoten, die von den sensationslüsternen Wienern verbreitet wurden und die bis heute den Eindruck erwecken, der Kongress habe sich ausschließlich den Genüssen des Lebens gewidmet. Zweifellos hat sich in dem Festereigen die europäische Gesellschaft in Wien beglückwünscht, endlich wieder zur Ruhe gekommen zu sein. Das Kaiserreich Österreich demonstrierte als Gastgeber den Rang einer Großmacht, Thron und Krone präsentierten sich als „große Oper der Sinne, die ästhetisierte Monarchie als Staatsballett“ (Straub): Sinneskitzel eines Verwaltungsstaats für das Volk, die Schlangen vor dem Buckingham-Palast zeigen, dass das heute noch funktioniert.

Kosten: Circa 105 Millionen Euro

Interessiert man sich ausschließlich für das Unterhaltungsprogramm, die Bälle, Schlittenfahrten, modischen Scharmützel und lukullischen Genüsse, wird man bei Etzlstorfer bestens bedient, er präsentiert ausschließlich das große Fest, kein Wort über die geopolitische Bedeutung der Veranstaltung. Die beiden erfahrenen Viennensia-Historikerinnen Ehrlich und Bauer haben sich die Mühe gemacht, die Kosten der monströsen Veranstaltung zu recherchieren und in heutige Währung zu übertragen: 105 Millionen Euro, das muss man sich vor Augen führen, um das Geld konnte man auch einen Feldzug gegen Napoleon finanzieren.

Will man die großen politischen Leistungen des Kongresses – die Fundamentlegung für ein modernes Völkerrecht, die Gründung des Deutschen Bundes, die Schöpfung der Niederlande und der Schweizer Neutralität, die Abschaffung des Sklavenhandels et cetera, will man dieses raffinierte geopolitische Räderwerk durchschauen, muss man zu dem Buch des französischen Historikers Thierry Lentz greifen. Man braucht freilich Ausdauer, das diplomatische Spiel der rivalisierenden Mächte ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, und man darf nicht die Geduld verlieren, wenn man sich in die Arbeit der zahlreichen Komitees vertieft.

Mit den Unterschriften unter die Schlussakte des Wiener Kongresses – unspektakulär am 7.Juni 1815 – war das „europäische Konzert“, das prekäre Gleichgewicht unter den fünf Großmächten, eingerichtet. Es wurde oft als zynische, völkerverachtende Kabinettpolitik gebrandmarkt, aber es hat Europa vor Destabilisierung bewahrt (die Kriege des 19.Jahrhunderts blieben regional begrenzte Auseinandersetzungen) und sollte diese Aufgabe bis zur großen Katastrophe von 1914 leisten, als der Nationalismus das bewährte geopolitische System endgültig zerstörte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2014)

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