Grodek – und kein Ende

Die zwei wichtigsten neuen Bücher zum Jahr des Georg Trakl: Rüdiger Görner legt eine Studie zum „Dichter im Jahrzehnt der Extreme“ vor, Hans Weichselbaum aktualisierte seine Biografie.

Der 77-jährige Goethe schrieb 1826 in der Ankündigung seiner „Ausgabe letzter Hand“, dass die „deutsche Cultur bereits auf einem sehr hohen Punkte“ stehe, „wo man fast mehr als auf den Genuß eines Werkes, auf die Art, wie es entstanden, begierig scheint“. Viel Freude dürfte Goethe mit diesen „Wünschen der neuesten Zeit“ nicht gehabt haben. Der Ausdruck des „sehr hohen Punktes“ der „deutschen Cultur“ ist denn auch schwerlich ohne Ironie zu lesen.

Das Interesse an den konkreten Schreibanlässen, am soziokulturellen und biografischen Umfeld der Entstehung von Literatur ist seit 1826 kontinuierlich angestiegen. Im Fall des Lyrikers Georg Trakl bekommt das Inbezugsetzen von Leben und Werk heuer besonders kräftige Impulse: Durch den Zusammenfall des Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs mit jenem an Trakls Todestag vor 100 Jahren wird der Betrachtung von Vita und Œuvre dieses Ausnahmedichters „vom Ende her“ neue Nahrung gegeben. Trakls letztes Gedicht, „Grodek“, bezieht seinen Titel von der galizischen Kleinstadt, in der im September 1914 eine verheerende Schlacht getobt hat. Trakl hatte als „Medikamentenakzessist“ in einer Sanitätseinheit die Verwundeten zu betreuen.

Einerseits gilt nun „Grodek“ in den Übersichtsdarstellungen und Anthologien des Weltkriegsgedenkjahres als wichtigstes literarisches Denkmal der Ostfront, wobei man sich mit der Deutung des Textes ausgesprochen schwertut. In einem süddeutschen Feuilleton las man vom „Ton der Heldenklage“, von Zeichen eines Opfers „für eine größere Sache“. Andererseits stellt man Trakls Tod gern als direkte Folge traumatischer Erlebnisse in Grodek, oft als Suizid dar.

Bei solchen Ungenauigkeiten und Unsicherheiten ist es gut, dass sich nun mit den beiden wichtigsten Publikationen zum Trakl-Jahr Klarheit verschaffen lässt. In der aktualisierten Neuausgabe der vor genau 20Jahren erschienenen Biografie Hans Weichselbaums kann man (wieder) nachlesen, dass das, was an den Todesumständen Trakls geklärt ist, die Selbstmordthese nicht absichert: Die Ärzte des Krakauer Garnisonsspitals notierten Intoxicatio cocainum, Kokainvergiftung, in die Krankengeschichte, die genauen Umstände bleiben Spekulation.

Von Rüdiger Görners schlicht „Georg Trakl“ betiteltem Werk (das der Verlag in eifriger Fortschreibung der Trakl-Mythologie mit dem „Rätsel“ seines Todes bewirbt) sollte sich mancher Trakl-Exeget das genaue Hinsehen, das „close reading“ abschauen. Dann sähe man etwa, dass der „Ton der Heldenklage“ in „Grodek“ durchaus gebrochen ist, ist doch nicht von „stolzer“, sondern von „stolzerer Trauer“ die Rede – eine entscheidende, vieles relativierende Differenz.

Genauigkeit, Differenzierung und Vorsicht zeichnen beide Bücher aus. Weichselbaum und Görner sind sich der Schwierigkeiten, direkte Bezüge zwischen Leben und Werk herzustellen, sehr bewusst, aber sie begeben sich mutig in diese – bei Trakl besonders verdunkelte – Grauzone. Weichselbaum behilft sich im Vorwort mit Roland Barthes' Begriff der Biographeme, seine Biografie wolle kein „abgerundetes Porträt“ sein, sondern dem Lesenden die „fassbaren biografischen Daten und Abläufe“ darlegen. Er geht aber auch den „Hinweisen auf den Zusammenhang von Leben und Dichtung“ nach und ortet biografische Elemente, die in „Trakls Bildvorrat eingegangen“ seien.

Die Vorsicht des Biografen

Für Rüdiger Görner ist das „möglichst umfassende Erfassen dieses Werks und einiger Konturen seines Lebens“ gar das Ziel seines Unternehmens. Ihn interessiert dabei auch die Frage, „wie (auto-)biografisch seine Dichtungen insgesamt zu werten seien“. Dabei geht Görner im Biografischen mit großer Behutsamkeit vor: Trakl „soll“ etwas getan haben, etwas „dürfte“ „offenbar“ oder „allem Anschein nach“ so und so gewesen sein.

Mit dieser sympathischen Vorsicht sind allerdings die Gemeinsamkeiten der beiden Bücher erschöpft: Görners Werk ließe sich im umfassenden Wortsinn als „Studie“ bezeichnen, Weichselbaum liefert trotz der einleitenden Relativierung eine klassische, chronologisch aufgebaute Biografie. Hier ist man Verlag und Autor zu Dank verpflichtet, dass nun die so kenntnis- und materialreiche, dabei gut lesbare Sammlung aller gesicherten Daten zu Trakls Leben und Einflüssen aktualisiert wieder lieferbar ist – eine unentbehrliche Grundlage der Beschäftigung mit dem Salzburger Jahrhundertpoeten. Das verursacht beim Leser ein lachendes Auge, in das andere schießen ihm allerdings in Erinnerung an die schöne Ausgabe von 1994 die Tränen. Denn nun liegt Weichselbaums Biografie in einem uninspirierten, uneleganten Layout mit dem Charakter einer trockenen Dissertation vor; das dicke Glanzpapier macht das Buch zudem übermäßig schwer und unhandlich.

Wählt man für Rüdiger Görners Buch den Begriff Studie, so schwingt dabei etwas Altmodisches mit. Görners Wirken findet tatsächlich fernab kulturwissenschaftlicher Moden statt. Wenige Literaturwissenschaftler beschäftigen sich wie er intensiv mit der „altmodischen“ Lyrik, der in London Lehrende ist dabei ein begeisterter Austriazist mit Mut zum Abgelegenen: Man konnte von ihm schon Beiträge zur Lyrik Lenaus und Lernet-Holenias lesen. Die intertextuellen Bezüge sind ihm denn auch in der Ausdeutung des traklschen Œuvres sehr wichtig, wobei etwa Lenau, aber auch der Weimarer Geheimrat für Trakl keine Referenzen waren. Görner legt, natürlich auf die Trakl-Forschung aufbauend, andere Spuren offen: von Nietzsche über Verlaine, Rimbaud, George, Spengler bis hin zur bildenden Kunst. Wenn auch der eine oder andere Begriff dem philologisch wenig Geschulten nicht bekannt sein dürfte, so gelingt es Görner, nicht zu dozieren. Offensichtlich kommt ihm seine Lehr- und Schreiberfahrungen im angelsächsischen Raum, in dem schriftstellerischer „drive“ und Wissenschaftlichkeit zusammengedacht werden, zustatten.

Nur vereinzelt schlägt er über die Stränge: Ein Geschwisterpaar etwa wird „von der Ausweglosigkeit“ seiner Liebe „vergewaltigt“. Im Zentrum stehen bei Görner die Deutung der Texte Trakls, das Erschließen seiner Poetik, seines „toxischen Schaffens“; das im Untertitel genannte Zeitkolorit ist nur Beiwerk. Und der Autor macht klar, dass sich die Gedichte Trakls, die für ihn zu einem großen Teil „vollkommen“ sind, nicht letztgültig erschließen lassen.

Beide Bücher stillen die von Goethe genannte Begierde, die Entstehungsbedingungen dieser Literatur zu kennen. Aber beide Bücher sind zweifellos auch imstande, den Genuss am Werk, von dem er ebenso gesprochen hat, zu erhöhen. ■

Rüdiger Görner

Georg Trakl

Dichter im Jahrzehnt der Extreme. 352 S., geb., €25,60 (Zsolnay Verlag, Wien)

Hans Weichselbaum

Georg Trakl

Eine Biografie. 224S., geb., €24
(Otto Müller Verlag, Salzburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)

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