Zyankali nach dem Ehestreit

Der US-Wissenschaftsjournalist Jack El-Hai sieht Parallelen im Tod des US-amerikanischen Gerichtspsychiaters Douglas M. Kelley und des von ihm untersuchten NS-Bonzen Hermann Göring.

Nachdem sein Autor als Zeuge der Anklage beim Eichmann-Prozess brilliert hatte, erschien Gustave M. Gilberts „Nürnberger Tagebuch“, ein internationaler Bestseller, mit 15-jähriger Verspätung auch auf Deutsch. Gilbert hatte als Gefängnispsychologe und Übersetzer die Nürnberger Angeklagten während des Prozesses betreut. Seine Beschreibung der willigen Gesprächspartner als psychisch abnorm, leicht manipulierbar und aggressiv entsprach offensichtlich einem Bedürfnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft und erlangte schnell auch hier die Deutungshoheit.

Doch rund um dieses Buch gibt es zumindest zwei Geschichten, die der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jack El-Hai ausgegraben hat: Gilbert war nicht der Erste und schon gar nicht der Einzige, der sich um das Seelenleben deutscher Kriegsverbrecher gekümmert hatte. Der Psychiater Douglas M.Kelley leitete die Betreuung der Angeklagten, er war Gilberts Vorgesetzter, hatte allerdings Deutschland vor Prozessbeginn mit einer gigantischen Menge an Berichten, Untersuchungen und Interviews verlassen und sein Buch „22 Cells in Nuremberg. A Psychiatrist Examines the Nazi Criminals“ war kurz vor jenem Gilberts erschienen.

Wer Gilberts Buch durchsieht, findet den leitenden Armeepsychiater Major Kelley zweimal erwähnt – laut Register als „amerikanischen Kläger“, im Text als „Psychologen“ und als Mitwirkenden bei der Entwöhnung des süchtigen Hermann Göring. Kelleys Buch brachte ihm einen Vorschuss von 300 Dollar, nach dem Misserfolg kaufte er die Rechte um 250 Dollar zurück. Dass es kaum jemanden interessierte, hing mit Kelleys Forschungsfrage und seiner Antwort zusammen: Kann man das Böse erforschen, hat es einen Ursprung, ist es erkennbar?

Kelleys Antwort lieferte nicht jene – letztlich optimistische – Entlastung, die Gilbert gab: nein, wenn man davon absieht, dass – mit Ausnahme Robert Leys und Julius Streichers – die Nazi-Größen allesamt hochintelligente, durchsetzungsstarke Workaholics waren, hatten sie kein gemeinsames Merkmal; im Grunde waren sie ganz normale Menschen. Sie alle hatten Ja zu ihrer Tat gesagt und das verallgemeinerte Kelley zu einer These, die ihn in seinem Leben in eine mittelschwere Paranoia trieb: Was in Deutschland geschehen ist, kann sich auch in den USA ereignen.

Damit sind wir bei der zweiten Geschichte, der von Leben und Tod des Dr. Kelley. Er stammte aus einer jener ein wenig skurrilen, alten amerikanischen Familien, die gelegentlich in Kinofilmen wie Wes Andersons „Royal Tenenbaums“ porträtiert werden. Er heiratete eine Frau aus einem ähnlichen Milieu, in dem eine Art zivilisierter Wahnsinn Tradition hatte und der Größenwahn erblich war. Kelley war – ungeachtet seiner abgeschlossenen psychiatrischen Ausbildung – ein universell interessierter Autodidakt und nebenbei ein passionierter Zauberkünstler, der seine Tricks zunächst an seine Patienten weitergab, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken, und sie später nützte, um seinen Studenten die Relativität der menschlichen Beobachtung zu demonstrieren.

Kelley brauchte tatsächlich lange, bis er nach der Heimkehr in die USA wieder Fuß fasste. Erst sein Wechsel in die Kriminologie brachte Erfolg: Er beriet die Polizei und Nicholas Ray bei dem Jugendbandenfilm „Rebels without a Cause“, gutachtete in einigen sensationellen Mordfällen und hatte eine eigene Fernsehshow. Dennoch, irgendetwas klappte in diesem Leben nicht, Kelley begann zu trinken und wurde innerfamiliär gewalttätig. Ein Psychiater, der sich weigerte, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was am ersten Jänner 1958, dem zehnten Geburtstag von Kelleys Sohn, tatsächlich geschehen ist, bleibt unklar – ein Ehestreit, ein hocherregter Kelley, der in sein Studio stürzte und sich, rückkehrend, auf der Treppe vor seiner Familie mit Zyankali vergiftete – mit Absicht oder als pathetischer „Zaubertrick“?

Ja, das ist das gleiche Gift, mit dem sich auch Hermann Göring getötet hat; ja, in Nürnberg hat Kelley sozusagen Göring, der sich weinend von ihm verabschiedet hat, „geknackt“; ja, wer will, kann Analogien in der Energie, der Egozentrik und der Manipulationskraft des Psychiaters und seines Patienten sehen. Dennoch, Jack El-Hai legt ein wenig zu viel Wert auf diese Nebengeschichte und entwertet damit die interessante Entdeckung einer neuen Facette im alten Streit um die Banalität des Bösen. ■

Jack El-Hai

Der Nazi und der Psychiater

Aus dem Amerikanischen von Henriette Heise. 318S., geb., €38 (Die Andere Bibliothek, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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