Europas Süden – der neue Osten?

Die Frage, ob der Westen von den Revolutionen in Osteuropa lernen könnte, wurde gar nicht erst gestellt. Man fühlte sich eher in seinen Kreisen gestört. Philipp Thers Studie zur „Neuen Ordnung auf dem alten Kontinent“: Bedenkenswertes über das Wendejahr 1989 – und seine Folgen.

Wann wird die Gegenwart zur Geschichte? Wenn man als Hochschullehrer merkt, dass man seine Erfahrungen an Studierende weitergibt, die in der Zeit, über die man aus eigener Anschauung erzählen kann, noch nicht geboren wurden. „1989“ ist heute schon in diesem Sinne Geschichte. Viele Helden von damals sind gestorben oder auf dem Altenteil. Die historischen Narrationen und Rituale über jenes Jahr hingegen sind sehr lebendig. Wir können in diesem Jahr den 25. Jahrestag des runden Tisches in Warschau, der Beseitigung des Stacheldrahtes an der ungarischen Grenze, des Berliner Mauerfalls, der Samtenen Revolution würdigen. Ich war im Juli in Neckenmarkt auf einer Veranstaltung, auf der Bewohner dieses Städtchens der ersten Ostdeutschen gedachten, die im Sommer 1989 aus Ungarn zu ihnen kamen, über eine Grenze, die für Jahrzehnte als unpassierbar galt. Die Fotos fanden die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Anwesenden. Dort war etwa eine Probehochzeit eines ostdeutschen Paars zu sehen, bei der der heutige Bürgermeister als junger Mann Trauzeuge war. Unerhörte Ereignisse. Man vergisst sie nicht. Das Jahr 1989 war reich daran. Philipp Ther, Historiker an der Universität Wien, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben über jene Epochenwende und die Veränderung des ganzen Kontinents, nicht nur des Ostens, durch sie.

Das Buch will eine Geschichte der Transformationsforschung schreiben, allerdings unter einer ungewöhnlichen Perspektive. Der Text führt uns vor Augen, dass es prominente Verlierer der großen Transformation gegeben hat, Berlin ist (relativ gesehen) abgestiegen, Warschau und Prag sind aufgestiegen, aber auch absolut gesehen sind diese beiden östlichen Hauptstädte erfolgreicher gewesen als jene bekannte westliche. Im Buch wird das durch statistische Daten belegt, an der Zahl der in der Stadt anwesenden Unternehmen, an Arbeitslosenquoten gemessen. Selbst bei den Erwerbseinkommen pro Kopf liegt Berlin 2008 deutlich hinter Warschau. Dazu kommt ein origineller Blick auf die Zeit. Die beschriebene Transformation begann nicht erst 1989, ihr Humankapital – „erfolgreiche Geschäftsleute und überzeugte Anhänger der Demokratie“ – bildete sich bereits in den Achtzigerjahren.

Transformation, ein „besonders umfassender und beschleunigter Wandel“, so lernen wir beim Lesen, sollte nicht nur an harten Fakten, sondern auch an weichen Diskursen zu begreifen versucht werden. Die rhetorischen Figuren der neoliberalen Reformen, etwa deren behauptete Alternativlosigkeit, gehören zur Realgeschichte, auch wenn sich Selbstbilder und tatsächliche neoliberale Politik deutlich unterscheiden.

Zu dem Bemerkenswerten gehört die Einsicht, dass sich nach 1989 nicht nur der Osten verändert hat. Auch der Westen hat sich transformiert. „Kotransformation“ ist das Stichwort dafür. Ther demonstriert das an der deutschen Entwicklung. Deutschland ist nicht nur externe Bewegungskraft der Transformation, es ist auch selbst Gegenstand des Wandels, erleidet ihn, ist Teil jener neuen Ordnung auf dem alten Kontinent. Und schließlich die überraschende Frage: Wird seit 2008 der Süden zum Osten? Taucht er in diesen selben gigantischen Mahlstrom ein, der den Osten ein gutes Jahrzehnt lang durchgeschüttelt hat? Und wie kommt er damit zurecht, verglichen mit dem Osten?

Welche Prozesse die aktuelle Transformation Osteuropas umschließt, ist jedem Studenten der Politikwissenschaft klar: Sie umfasst Übergänge von der Diktatur zur Demokratie, von der Staatsplanwirtschaft zur Marktwirtschaft. Der Umbau von Staaten und der Einfluss externer Akteure werden dazu gezählt. Ther will dieses Transformationsdenken nun historisieren, Grenzen überwinden. Auf einer ersten Ebene seines Textes geht es ihm um die Dechiffrierung der Wirkungen des „Neoliberalismus“. Allerdings will er keine weitere Beschwerde gegen ihn aufsetzen, sondern verstehen, wie er sich durchsetzen konnte gegen die Erwartungen und Werte der Dissidenten und Demonstranten des Jahres 1989. Dieser Aspekt ist für den Rezensenten besonders anregend. Die Ziele der Revolutionen und die Ergebnisse der Transformation unterscheiden sich deutlich voneinander. Aber warum war das so? Warum hat sich eine bestimmte Auffassung von Freiheit durchgesetzt, die der freien Wirtschaftstätigkeit und des schrankenlosen Individualismus, und nicht ein Freiheitsbegriff, der Solidarität und Gemeinsinn einschließt?

Ausgehend von einer Analyse der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei stellt Ther fest: „Diese ethische Einbettung der Freiheit und ihre sozialen Dimensionen gingen in der postrevolutionären Transformationszeit weitgehend verloren.“ Eine der interessanten Hinweise dieses an Denkanstößen reichen Buches ist die These, dass die öffentlichen Intellektuellen des Westens das Neue und Verteidigenswerte jener Volksbewegungen schlicht übersehen haben. Das Buch demonstriert das an Texten von Habermas, Furet, Garton Ashs und anderer. „Die Frage, ob und was der Westen lernen oder übernehmen könne, wurden gar nicht erst gestellt.“ Man sah nur die Bewegung hin zum Westen, nicht die Veränderung des Westens selbst. Man fühlte sich eher in seinen Kreisen gestört als zum Handeln und Nachdenken angeregt.

Mit dem Erbe jener Passivität der westlichen Zivilgesellschaft haben wir heute noch zu kämpfen. 1989 schien eine andere Welt möglich zu sein, eine Welt ohne Krieg und mit einem kollektiven Sicherheitssystem. Allerdings ließ man Gorbatschow mit seiner Utopie eines gemeinsamen europäischen Hauses im Regen stehen. Als im Osten die Welt kopfstand, „saßen die Umwelt- und Friedensaktivisten zu Hause“, schreibt Ther pointiert. Die Machtpolitiker des Westens hingegen schliefen nicht, sie sorgten sich darum, dass die Nato erhalten blieb. Die Ergebnisse dieses Veränderungsdefizits sehen wir heute, wo im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine der institutionelle Rahmen für eine neutrale Konfliktlösung fehlt und die Nato als Überlebende des Kalten Krieges ihre Wiederauferstehung feiert.

Ein weiterer Vorzug des Buches ist die Einbeziehung der Jahre seit der großen Finanzkrise. Sie hat auch den Blick auf die Ergebnisse der Transformation geschärft. Die Bilanzen des osteuropäischen Umbruchs, die man in den Jahren nach der Transformationsdekade (etwa um das Jahr 2004) und die man heute, nach oder vielleicht besser: inmitten der Finanzkrise seit 2008, ziehen kann, unterscheiden sich voneinander. Manches, was schon als dauerhaftes Resultat der Transformation und als ihr Erfolg galt, wird wieder in Zweifel gezogen. Nicht nur Bulgarien und Rumänien gelten heute als osteuropäische Problemfälle, sondern auch Ungarn und, weniger zugespitzt allerdings, Slowenien.

Die Transformation, so erläutert der Autor, hat verschiedene Anläufe genommen, und sie vollzog sich unter bestimmten, nicht immer günstigen Bedingungen. Die nach der Jahrtausendwende einsetzende zweite Phase der Transformation war durch den nationale Konkurrenzkampf um internationale Investoren bestimmt. Die Reformdiskurse spitzten sich auf die „Flat Tax“ zu, die zuerst 1994 in Estland eingeführt wurde, später in Russland, der Slowakei und einer Reihe weiterer Länder. „Der Preis für die Flat-Tax-Politik war die Einschränkung staatlicher Sozialleistungen.“ Allerdings hatte der Wirtschaftserfolg bestimmter Staaten keineswegs nur diese – in den neoliberalen Diskursen gefeierten – Konzepte zur Grundlage, sondern er beruhte auch auf dem in der Zeit des Staatssozialismus geschaffen „Humankapitals“. Damit sind intellektuelle Kompetenz, aber auch die Findigkeit im Umgang mit überraschend auftauchenden Problemen und die im informellen Sektor erworbenen Unternehmerfähigkeiten bezeichnet, die sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich schon vor Beginn der strukturellen Transformation herausgebildet hatten. Polen war in dieser Hinsicht begünstigt, und daraus erklärt sich vielleicht auch der unerwartete Erfolg des Landes in der jüngsten Wirtschaftskrise.

Abschließend zu interessanten Einblicken in die sich ausbildende Ungleichheit nicht nur in Osteuropa, sondern auf dem ganzen Kontinent. Es handelt sich nicht nur um eine Sammlung interessanter faktischer Einsichten in die reale soziale Unterschiedlichkeit, sondern um ein ganzes sozialwissenschaftliches Arbeitsprogramm. Statistische Daten sind wichtig, aber sie bilden gegenwärtig die regionalen Unterschiede nicht ausreichend ab. Ther versucht solche genaueren Differenzierungen durch ein sorgfältiges Zusammentragen der statistischen Daten, wirtschaftswissenschaftlicher Analysen, aber auch persönlicher Erfahrungen aus den ostmitteleuropäischen Ländern und der Ukraine zu erreichen. Unter der Überschrift „Reiche Städte, armes Land“ zeichnet der Autor ein eindrucksvolles Bild der inneren sozialen Unterschiede in Polen, der Slowakei, der Ukraine, aber auch Ostdeutschlands. Sein Resümee: „Die eigentlichen Absteiger waren die Menschen in den ländlichen Regionen und vor allem die Landarbeiter.“

Ein gutes Beispiel für die Herangehensweise Thers ist aber auch, dass er es nicht bei der Nachzeichnung der Unterschiede belässt, sondern auch danach fragt, warum diese durch die Bewohner der wenig entwickelten Gebiete hingenommen werden. Vielleicht, so seine Vermutung, liegt es daran, dass jene Gebiete schon lange in der Geschichte unterentwickelt waren und man in den Familien die Erfahrungen des Umgangs mit Armut lebendig gehalten hat oder dass die regionalen Unterschiede im Vergleich mit den anderen Brüchen der Neunzigerjahre weniger ins Gewicht fielen. Er stellt Überlebensstrategien dar, so die Arbeitsmigration und die damit verbundenen Geldüberweisungen nach Hause, eine Strategie, die wiederum ihren Preis für die Familien der migrierenden Eltern hat. Die Auswanderung der leistungsfähigeren Individuen bedeutet außerdem eine Verringerung des Entwicklungspotenzials gerade dieser zurückgebliebenen Regionen. Thers Erklärungen verdecken nicht, dass hier unerledigte Aufgaben weiterer wissenschaftlicher Analyse liegen.

Damit ist das Bemerkenswerte der Analyse Thers allerdings erst angerissen: In einem weiteren Aspekt betritt Ther gänzlich Neuland, und zwar dadurch, dass er auch den radikalen Wandel der Länder des Südens (und am Beispiel Deutschlands) die des Westens und Nordens seit 1989 in den Blick nimmt. Die Transformation des Ostens hat sich als Kotransformation des ganzen alten Kontinents erwiesen. Das öffnet die Tür für ein neues Kapitel des Gesellschaftsvergleichs und der theoretischen Interpretation des Kapitalismus. Es lohnt sich also, das Buch Thers gründlich zu lesen. ■

Philipp Ther

Die neue Ordnung auf dem alten
Kontinent

Eine Geschichte des neoliberalen Europa. 432S., geb., €27,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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