Über leeren Gräbern

Wie Mahnmale wider die Unge-heuerlichkeit des Vergessens, des Vergessenwollens nehmen sich Danilo Kiš' Prosawerke aus. Zur Erinnerung an den vor 25 Jahren verstorbenen Erzähler erscheinen nun seine großen Romane und Erzählungen in einem Band.

Die alten Griechen hatten einen verehrungswürdigen Brauch: Für jene, die im Feuer verbrannten, die von Vulkankratern verschluckt und von Lavaströmen verschüttet, die von wilden Tieren zerfleischt, von Haifischen gefressen oder von Wüstengeiern zerhackt wurden, errichteten sie in der Heimat ein sogenanntes Kenotaph, ein Grabmal über leeren Gräbern – denn der Körper ist bloß Feuer, Wasser oder Erde, die Seele aber das Alpha und Omega: Ihr gebührt ein Heiligtum.“

Diese Sätze des am 15.Oktober 1989 verstorbenen Erzählers Danilo Kiš entstammen der Titelgeschichte seines Prosabands „Ein Grabmahl für Boris Dawidowitsch“. In metaphorischer Verkleidung scheinen sie so etwas wie die poetische Programmatik dieses bedeutenden mitteleuropäischen Autors zu enthalten. Aus Anlass seines Todes vor 25Jahren sind nun seine großen Romane und Erzählungen, teilweise in neuer Übersetzung, wiederaufgelegt worden. Wie Mahnmale wider die Ungeheuerlichkeit des Vergessens, des Vergessenwollens nehmen sich Kiš' hinterlassene Prosawerke aus: Wie hoch aufgerichtete Erinnerungstafeln in einer Gedächtnislandschaft, in der die Zeichen von Schuld und Verantwortung immer wieder von der Gleichgültigkeit der Geschichtslosen eingeebnet werden.

Dabei hat der 1935 in Subotica im damaligen Königreich Jugoslawien geborene Sohn eines ungarischen Juden und einer serbischen Montenegrinerin nicht mehr erleben müssen, wie seine Heimat im Blutrausch von „ethnischen Säuberungen“ und nationalistischem Bürgerkrieg versunken ist. Er hätte weiteren tragischen Stoff für sein erzählerisches Leitthema gefunden, das stets die verlorene Erinnerung an die Opfer war, die – sei es durch eigene Mitwirkung, sei es ohne Harm – plötzlich in das Räderwerk der Vernichtung geraten. Wobei es angesichts der Absurdität der geschilderten Vorgänge gleichgültig wird, auf welcher Seite der geschichtlichen Turbulenzen die Betroffenen einst gestanden sind.

Im 1983 erstmals in deutscher Übersetzung von Ilma Rakusa erschienenen Erzählband „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ waren es meist sowjetrussische Revolutionäre, die als angebliche oder tatsächliche Spione, Verräter, Doppelagenten den Schreckenspraktiken der Henker und Folterknechte des totalitären Systems ausgesetzt wurden. Schon damals verband Kiš diese scheinbar nüchtern protokollierten Leidensgeschichten aus stalinistischer Zwangsherrschaft mit der Historie eines religiös motivierten Pogroms aus dem 14.Jahrhundert. Er wies damit auf die tödliche Gleichförmigkeit kollektiver Vernichtungsaktionen hin, die sich, mit welchem Glaubenstheorem immer, gegen Abtrünnige und Andersdenkende richten.

Dass dieses Leitthema hier nur die Variation auf eine diesen Erzähler obsessiv bedrängende existenzielle Grunderfahrung darstellte, wurde bereits früher aus zwei anderen Kiš-Büchern ersichtlich. Vor allem der Roman „Garten, Asche“, sein aus dem mythischen Bilder- und Erlebnisraum einer von jüdischer Familientradition geprägten Kindheit im Serbien des Zweiten Weltkriegs geschöpftes Meisterwerk, machte deutlich, dass Kiš' Suche nach der verlorenen Erinnerung der Opfer dem leeren Grab des eigenen Vaters galt, der Ahasver-Gestalt aus dem Leidenszug derer, die von den NS-Schergen auch in der Heimat von Kiš zu Abertausenden in die Vernichtungslager verschleppt wurden.

In „Garten, Asche“ ist es die aus einer Vielschichtigkeit von mythischen und realistischen Elementen imaginierte Figur des Bahnangestellten und Vaganten Eduard Sam, eines anarchistischen Schwarmgeists und Lebenskünstlers, dem inmitten einer Kosmologie symbolischer und märchenhafter Assoziationen ein Denkmal verzweifelter Sohnesliebe errichtet wird. Denn Eduard Sam, dieses Abbild jüdischer Duldsamkeit im Angesicht der in ihrer Brutalität unbegreiflichen Bedrohung, überlebt nur in den aus unbestimmbaren Erinnerungsfäden gewobenen Kindheitsfantasien des halbwüchsigen Knaben in einem von wuchernder Naturmagie erfüllten mythischen Zwischenreich, dessen geschichtliche und geografische Eingrenzung sich erst allmählich, im reifenden Bewusstsein des Erzählers einstellt.

So entsteht in der poetischen Recherche des Vaterbilds, in der zuweilen ins Hymnische ausgreifenden Rekonstruktion dieser ganz ihren pantheistischen Schwärmereien hingegebenen Clownsgestalt mit Spazierstock, Gehrock und Halbzylinder, dank Kiš' Erzählmagie eine Figur von Beckett'scher Größe und Schwermut. Zugleich aber bietet „Garten, Asche“ das Beispiel eines psychologischen Entwicklungsromans, der mit ironischen Brechungen die wachsende Schärfe des sich erinnernden Bewusstseins ganz aus dem Gesichtsfeld des seiner kindlichen Realität hingegebenen Knaben zu formen vermag.

Von hier aus ist es nicht weit zum Motiv der Epiphanie der Vatergestalt, wie sie in der Titelgeschichte der „Enzyklopädie der Toten“ gestaltet ist. In einem nächtlichen Inventurgang findet der Ich-Erzähler in einer mysteriösen schwedischen Bibliothek die Lebensgeschichten sämtlicher Verstorbenen vor, darunter auch die des verschollenen Vaters. Das Motiv ist realistisch untermauert: In einem gespenstischen Mikrofilmarchiv amerikanischer Mormonen wird eine Inventarisierung aller Jenseits-Zuzügler versucht – ein Datenspeicher des Totenreichs. Kiš' Ich-Erzähler freilich bleibt unweigerlich beim Namen des eigenen Vaters hängen. Atemlos versucht er, bis zur Morgendämmerung so viele enzyklopädische Fakten wie nur möglich aufzunehmen, Namen, Orte, Jahreszahlen. Was der Albtraum vorgaukelt, spiegelt die aus Furcht und Sehnsucht genährte Wunschwelt des Erzählers wider: die Möglichkeit, eine ins Unbekannte abgebrochene Biografie lückenlos zu rekonstruieren, die Fiktion vollständig in der materiellen Faktenwelt aufgehen zu lassen, ohne Rest und Rätsel.

In dieser Traumerzählung von der wiedergefundenen Lebensgeschichte des Vaters inmitten einer allwissenden Bibliothek errichtet Kiš abermals ein episches Grabmal, doch es ist das Kenotaph über dem Grab bloßer Tatsachenanhäufung. Vor allem aber ist die „Enzyklopädie der Toten“ eine wehmütig-ironische Parabel auf den versunkenen Totalitätsanspruch des Erzählers, der sich nur mehr als erzählerischer Albtraum paraphrasieren lässt.

Das Anschreiben gegen das Vergessen, das macht das Fakten und Fiktion in einem magischen Realismus verschmelzende Werk dieses Epikers deutlich, gelingt nur mehr in der Imagination, in der Wiedererfindung der Realität. Wo den Hinterbliebenen der sinnlos aus ihren Biografien gerissenen Opfer keine Hoffnung auf Aufklärung bleibt, geschweige auf Reue der Mittäter, müssen Erinnerungsmale errichtet werden, Buch um Buch über leere Gräber. ■

Danilo Kiš

Familienzirkus
Die großen Romane und Erzählungen. Aus dem Serbokroatischen von Ivan Ivanji, Anton Hamm, Katharina Wolf-Grießhaber, Ilma Rakusa. 912 S., geb., €41,10 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

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