Schlag nach bei Marx?

Die Ungleichheit steigt, so ließe sich Thomas Pikettys Studie über „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ zusammenfassen. Aber das Buch will mehr. Es fördert nicht die Empörung über die Ungleichheit, sondern das Verständnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen. Und belohnt mit Einsichten.

Nun ist das Buch von Thomas Piketty über Ungleichheit („Das Kapital im 21.Jahrhundert“) auf Deutsch erschienen. Zwar wird es in Deutschland und in Österreich bereits seit Monaten diskutiert, aber die deutsche Ausgabe macht es auch für jene zugänglich, die weder Englisch noch Französisch können. Wirklich? Es hat mehr als 800Seiten. Benötigt man so viele Worte, um zu zeigen, dass die Ungleichheit immer größer wird? Das hat man doch schon immer gewusst. Aber welche Belege gibt es dafür?

Das Buch von Piketty ermöglicht eine bessere Auseinandersetzung mit dem Thema. Der Autor ist Professor an der Paris School of Economics, hat Studien zur Einkommensverteilung in den führenden Journalen der Profession veröffentlicht. Mit diesem Buch hat er eine Diskussion in einer weiten Öffentlichkeit hervorgerufen, aber auch eine innerhalb der Zunft. Mir ist kein anderes Werk mit diesem Erfolg bekannt. Hans-Peter Martins „Die Globalisierungsfalle“, in über 20 Sprachen übersetzt, hat Öffentlichkeit gefunden, wurde aber innerhalb der ökonomischen Profession nicht ernst genommen. Zu oberflächlich waren dieRecherchen, zu unsinnig viele Argumente. Pikettys Werk hingegen ist fundiert.

Reduziert man das Buch auf die Aussage „Die Einkommen sind sehr ungleich verteilt, und diese Ungleichheit steigt“, so hätte er es auch auf viel weniger Seiten sagen können. Bleibt man bei dieser Aussage, so tut man dem Buch nicht unrecht, wenn man darüber mit den Worten „Noch einer, der es sagt“ urteilt. Das Buch will mehr. Es wird nicht nur die Ungleichheit der Einkommen behandelt, sondern auch die der Vermögen. In der modernen Wirtschaftswissenschaft ist das ein wenig behandeltes Thema.

Piketty sieht in der extrem ungleichen Verteilung der Vermögen ein fundamentales Problem der Gesellschaft. Das hat zwei Gründe: Erstens entsteht im Wege der Erbschaften eine Schicht, die ohne Arbeit sehr gut leben kann. Zweitens: Mit Vermögen kann man die Politik beeinflussen. Mehrfach wirddie Romanfigur des „Vaters Goriot“ von Balzacangeführt. Jener erklärt einem jungen Mann aus guter, wenn auch nicht reicher Familie, dass selbst mit hoher Qualifikation durch Arbeit nur ein armseliges Leben möglich ist. Er solle reich heiraten. Er selbst, als Nudelfabrikant reich geworden, hat Staatsschuld gekauft und damit den Töchtern Ehen mit Aristokraten ermöglicht. Piketty knüpft mit seiner Fragestellung bei Marx an, was auch im etwas kokett gewählten Titel des Buches zum Ausdruck kommt. Dessen ökonomische Theorie wird aber abgelehnt.

Die zweite Besonderheit des Buches: Piketty bringt die Überlegungen derart, dass auch Nichtfachleute sie verstehen können. Er will nicht durch starke Worte überzeugen, wie das oft in populären Büchern prominenter Ökonomen zu finden ist, sondern durch auch von Laien nachvollziehbare Argumente. Dazu werden die verwendeten Begriffe genau dargelegt. Und dazu sind die vielen Seiten nötig. Die Lektüre fördert nicht die Empörung über die Ungleichheit, sondern das Verständnis von wirtschaftlichen Zusammenhängen. Es ist keine ganz einfache Lektüre. Aber man wird mit Einsichten belohnt.

Es geht um die sehr langfristige Entwicklung der jetzt reichsten Wirtschaften, also um den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Verteilung. Die Aussagen werden durch die Darstellung der Entwicklung einiger volkswirtschaftlicher Größen gewonnen. Er stützt sich dabei auf Daten einiger Staaten, vor allem Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Das ist zunächst der jährlich produzierte Reichtum und dessen Wachstum, also das, was verteilt werden kann. Daran schließt sich die Darstellung der Entwicklung des Bestands an akkumuliertem Kapital an. Aus diesen beiden Größen kann die Entwicklung des Verhältnisses Kapital zum gesamten Produkt bestimmt werden: Wie viel Kapital benötigt man im Durchschnitt, um eine Einheit des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu produzieren?

Für das reiche Europa und die USA gilt, dass dieser Wert zirka sechs beträgt. Das heißt, das Vermögen aller Österreicher beträgt ungefähr 2000 Milliarden Euro, da das BIP zirka 320 Milliarden Euro ist. Dieses Verhältnis ist für die Verteilung des gesamten Einkommens wichtig, weil der Anteil der Kapitaleinkommen am gesamten Produkt steigt, wenn der Kapitalbestand bei konstanter Ertragsrate des Kapitals steigt. Die Aufteilung des gesamten produzierten Reichtums auf Kapitalerträge und Arbeitseinkommen ist Gegenstand eines weiteren Kapitels. Aus diesen Daten wiederum kann die Entwicklung der Ertragsraten des Kapitals bestimmt werden.

Die Darstellungen der Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der Arbeitseinkommen und der Kapitaleinkommen schließlich sind die Grundlage für die Aussagen über die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen insgesamt. Das Maß der Ungleichheit ist dabei: Wie viel Prozent des Gesamteinkommens fällt den Reichsten ein Prozent, den Reichsten fünf Prozent, zehn und so weiter zu. Das zentrale Ergebnis: Heute ist die Ungleichheit so groß wie vor über 100 Jahren, trotz der wesentlich höheren Steuern und der Sozialausgaben. Die Reduktion der Ungleichheit in den mittleren Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts war nur vorübergehend. Diese war zunächst eine Folge der Wirtschaftskrise, also keinesfalls eine gute Zeit für Arbeitnehmer.

Nach 1945 stieg die Ungleichheit zunächst nicht an. Das Wirtschaftswachstum war sehr hoch und die Ertragsrate des Kapitals nicht höher als früher. Das Verhältnis dieser beiden Größen ist für Piketty eine zentrale Größe. Seit den 1970er-Jahren steigt die Ungleichheit wieder. Das Wirtschaftswachstum ist geringer geworden, aber die Ertragsrate sank nicht. Es gibt freilich einen wichtigen Unterschied zwischen der Situation heute und der vor 100 Jahren. Die untere Mittelschicht lebt nicht in Armut. Es wird eben viel mehr produziert. Auch die Sozialprogramme sind dafür wichtig. Mit hoher Arbeitsqualifikation kann man heute sogar sehr gut leben, anders als der junge Mann im Roman von Balzac.

Die Ergebnisse scheinen zu halten. Zwar gab es nach Erscheinen der englischen Ausgabe einige Angriffe, die Thomas Piketty eines lockeren Umgangs mit den Daten bezichtigten; das konnte widerlegt werden. Die Quellen der Daten und die zur ihrer Gewinnung verwendeten Methoden sind im Netz frei zugänglich. Was ist alsoneu? Steht nicht alles schon bei Marx? Nein,dessen Theorie besagt das Gegenteil: Das Proletariat kommt aus dem Elend nicht heraus, und die Kapitalisten werden der Sache auch nicht froh, da die Profitrate die Tendenz zum Sinken hat. Ersteres ist offensichtlich falsch, Letzteres betont Piketty. In der modernen Theorie wiederum gibt es zwar Modelle, denen zufolge sich im langfristigen Wirtschaftswachstum alles Vermögen bei nur wenigen Personen konzentrieren kann; aber sie haben wenig Beachtung in angewandter Forschung gefunden.

Das vorliegende Buch bietet allerdings keine ökonomische Theorie der geschilderten Entwicklung. Das wird ihm vorgeworfen. Es ist aber eine Tugend. Eine aus nur wenigen Grundannahmen gebaute Theorie kann nicht die Entwicklung der Einkommensverteilung über einen Zeitraum von mehr als 200Jahren mit seinen politischen, demografischen und technischen Veränderungen erklären. Man kann auch nicht den Klimawandel nur mit den drei Hauptsätzen der Thermodynamik analysieren.

Deutlich wird der eklektische Umgang mit Theorien bei der Verwendung des Begriffs „Kapital“ und den damit verbundenen Einkommen. In der Wirtschaftstheorie versteht man unter Kapital produzierte Werte, die in der weiteren Produktion Verwendung finden: Maschinen, Gebäude, Straßen, Humankapital und so weiter. Bei Piketty ist Kapital alles, was Einkommen ohne weitere Arbeit ermöglicht. Dazu gehört auch das Eigentum an knappen Ressourcen, deren Erträge in der ökonomischen Theorie als Renten geführt werden. Hingegen fällt das Humankapital – das sind spezifische Qualifikationen – weg, da das damit gewonnene Einkommen notwendigerweise eigene Arbeit voraussetzt. Kein Arzt, keine Generaldirektorin, kein Sportler kann seine oder ihre Fähigkeiten an eine andere Person verkaufen oder vermieten, damit diese selbst damit arbeitet.

Thomas Pikettys Darstellung entspricht der bereits angeführten Problemsicht von Karl Marx, nämlich Einkommen aus Arbeit gegenüber Einkommen aus Vermögen. Letzteres kann vererbt werden, das Arbeitsvermögen nicht. Ein langes Kapitel des Buches ist diesem Thema gewidmet. Dennoch, eine klare Unterscheidung zwischen Einkommen aus Arbeit und dem aus Kapital ist problematisch. Reines Kapitaleinkommen ohne Arbeit ist nur ein Teil der Kapitaleinkommen. Größere Vermögen profitabel anzulegen verlangt Arbeit. Das weiß auch Piketty. Bei der Berechnung der Ertragsrate des Kapitals wird eine Nettoertragsrate bestimmt, bei der er den Wert dieser Arbeit als Kosten berücksichtigt.

Die Aufteilung der Einkommen in jene aus Arbeit oder jene aus Eigentum ist aber noch komplexer als von Piketty angeführt. Die extrem hohen Einkommen etwa von René Benko oder Dietrich Mateschitz – sind das Arbeitseinkommen oder Profite aus Kapital? Keiner der beiden ist Couponschneider, sie arbeiten viel. Sie könnten ihr Einkommen bilanztechnisch als Arbeitseinkommen oder als Kapitaleinkommen darstellen. Wie es aufgeteilt wird, ist wohl eine Frage der Steuergesetzgebung, von Haftungsregeln und anderem, aber sicher nicht eine entlang der ökonomischen Kategorie von Arbeit und Kapital. Auch bei „Vater Goriot“ ist die Aufteilung nicht so klar wie von Pikettydargestellt. Goriot selbst war industrieller Produzent von Nudeln. Handelte es sich bei dem dabei erworbenen Vermögen um Kapitaleinkommen oder um Einkommen aus Arbeit? Bei seinen Töchtern und deren Ehemännern ist es reines Kapitaleinkommen.

Notwendig wären also Theorien, warum manche Einkommen hoch und andere niedrig sind. Eine einzige Theorie, die alles erklärt, wird es nicht geben. Einige Vermutungen: Das Bevölkerungswachstum spielt eine Rolle. Es geht nicht darum, dass für mehr Bevölkerung mehr Grund und Boden für die Ernährung benötigt wird. Aber die Knappheit aller Ressourcen steigt, wenn die Bevölkerung wächst. In Wien ist das gut zu beobachten. Grundstücke, Häuser, Wohnungen werden teurer, weil die Bevölkerung wächst. Wer im Jahr 1970 etwas davon im Eigentum hatte und es behielt, ist reicher geworden – oder auch die Erben.

Ein weiterer Ansatz: Neue Technologien ermöglichen sehr hohe Profite, weil sie mit Monopolen verbunden sind. Diese werden mit der Zeit geringer, weil der Wissensvorsprung verschwindet. Das ist der Standard der ökonomischen Theorie. Nur, es gibt immer neue Technologien, die übermäßige Profite ermöglichen. Heute sind es die IT-Entwicklungen. Binnen weniger Jahrzehnte sind Vermögen von mehreren Milliarden entstanden. Die Profite in dieser Industrie werden wieder sinken, andere technische Erneuerungen werden hohe Profite ermöglichen.

Eine dritte Vermutung: Die Integration der Märkte und von Kulturen erlaubt den Erfolgreichen extrem hohe Einkommen. Ein in Hollywood erfolgreicher Schauspieler kann hunderte Millionen Zuseher haben. Sein Einkommen wird daher höher sein als das eines erfolgreichen Schauspielers auch der besten städtischen Bühne. Oder: Mit guten Kinderbüchern konnte man ein recht gutes Leben alimentieren. Der weltweite Vertrieb der „Harry Potter“-Bücher hat deren Autorin binnen weniger Jahre zu einer der reichsten Frauen der Welt gemacht. Familie Klein mit ihrem Almdudler hat denösterreichischen Markt erobert und konnte damit ein für österreichische Verhältnisse großes Vermögen erwerben. Dietrich Mateschitz, 30Jahre später, hat mit Red Bull auf dem Weltmarkt reüssiert und wurde zu einer der reichsten Personen europaweit.

Pikettys Buch streift diese Fragen, aber er gibt keine fertige Analyse. Diese würde wohl noch einmal 800 Seiten verlangen. Die Wissenschaft gibt eben keine abgeschlossenen Erklärungen. Das unterscheidet sie von Heilslehren. Der Wert dieser 800 Seiten liegt in der Darstellung der Probleme, sodass man ohne Studium der Ökonomie (fast) alles verstehen kann. Das ist eine erhebliche Leistung. Die Profession ist gefordert weiterzuarbeiten.

Gefordert ist auch die Politik. Piketty selbst hat einige Vorschläge. Sie sind keinesfalls radikal. Die meisten werden auch bei uns diskutiert: Erbschaftssteuern, höhere Steuern auf Kapitalerträge, internationale Abkommen über Steuern. Einer direkten Beschränkung der sehr hohen Einkommen spricht er nicht das Wort. Das ist nicht verwunderlich, da die Einkommen aus Kapital dabei nicht berührt werden. Es betrifft ja nur Arbeitseinkommen.

Politisch entschieden muss auch werden, was mit Vermögen gekauft werden darf und was nicht. Der Kauf von Kunstwerken ist wohl nicht problematisch. Dass Politik nicht gekauft werden kann, darüber besteht Einigkeit. Aber wie setzt man das bei Spenden für Wahlen um, und was bedeutet das für den Wechsel von Politikern in die Geschäftswelt? Wie ist das mit knappen Ressourcen: der Leistung von Spitzenärzten, dem Zugang zu guten Universitäten, schönen Teilen der Landschaft? Soll das käuflich sein? Das Buch drängt diese Fragen auf. ■

Thomas Piketty

Das Kapital im 21. Jahrhundert

Aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer. 816 S., mit 97 Grafiken und 18 Tabellen, geb., €30,80 (C. H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

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