Wenigstens nicht schaden!

Eine widerspenstige Generation mit Wunsch nach Veränderung: Karl Wimmlers Erzählungen.

An diesem Buch gäbe es einiges zu beanstanden. Den vordergründigen Titel („Das Gegenwärtige des Vergangenen“); die Neigung des Autors, Haupt- und Nebensätze zu zerhacken; seine Umständlichkeit im Beschreiben von Vorgängen und Sinneseindrücken.

Aber der in Graz lebende Autor Karl Wimmler, der nach dem Roman „Notizen über Hanna“ seinen ersten Band mit Erzählungen vorlegt, braucht sich von solchen Einwänden nicht beirren zu lassen –er behandelt ein wichtiges Thema und trifft dabei die Befindlichkeit von Menschen, die sich seit ihrer Jugend am kapitalistischen Einheitsdenken reiben.

Sie sind oder waren – in zwei Erzählungen geht es um Sterbende – um die 60,in einem Alter, in dem Engagement für gewöhnlich in Melancholie umschlägt. Wimmlers antiheroische Helden allerdings sind nicht davon abzubringen, denSchlüssel für die gegenwärtige Misere in der jüngeren Geschichte zu suchen, also auch im persönlichen Umfeld, das sie belastet: ein ehemaliger Nazilehrer, dem sie in einem Thermalbad begegnen; ein Bruder, der Burschenschafter ist; eine Jugendliebe, die am schuldhaften Verhalten habgieriger Großeltern zerbricht.

Karl Wimmler vermeidet große Gesten. Trotzdem teilt sich das Unglück der Vereinzelung mit, das diffuse Empfinden von Enge und Aussichtslosigkeit. Was diese Erzählungen jedoch über viele im Anspruch vergleichbare Werke erhebt – Werke arrivierter, viel gelesener Schriftsteller –, ist das Bestreben ihres Verfassers, schreibend etwas herausfinden, klären, wissen zu wollen. Literatur ist ihm ein Mittel zur Selbstbehauptung und Wahrheitsfindung.

Es wird viel recherchiert in diesem Buch, gelesen, aufgezeichnet. In der letzten Erzählung des Bandes, „Sein Leben als Datum. Revolutionsetüde“, übergibt ein Todkranker seinem Freund eine Mappe. Sie enthalte, meint er, „einen Querschnitt durch mein Leben“. Ein paar beschriebene Zettel, ungeordnete Zeitungsausschnitte.

Der 17. Juli in der Geschichte

Sie alle beziehen sich auf den 17. Juli, den Geburtstag des Kranken: Meldungen und Notizen anlässlich des Todes von Heinrich Böll 1985; der Beschlagnahme eines Briefes von Gudrun Ensslin an ihre Schwester Christiane 1972; der Premiere des Films „Easy Rider“ 1969; der militärischen Erhebung gegen die Spanische Republik 1936; des Hamburger Blutsonntags 1932; des 32. Transports Wiener Juden nach Auschwitz 1942; des Geburtstags des finnischen Skispringers Matti Nykänen 1963; der Appellation zweier Abgeordneter im österreichischen Reichsrat 1918, die Militärstrafen „Anbinden“ und „Schließen in Spangen“ zu verbieten; des Massakers auf dem Pariser Marsfeld 1791; der Promotion Alfred Klahrs 1928; der Bestattung des Herzens von Otto von Habsburg in einem ungarischen Kloster 2011. Dazu rätselhafte Querverweise: „Marx! Mauthner! Mao! Deschner! L. Baier lesen! Und vielleicht Zuckermann?“, die der Ich-Erzähler nach und nach entschlüsselt. In Summe ergibt das eineAbhandlung über Revolution und Konterrevolution.

So schafft Wimmler auf wenigen Seiten das Porträt einer Generation, ihres besten Teils, der seinen Wunsch nachradikaler Veränderung zurückschraubenmusste auf die Forderung an sich selbst: „Aber wenigstens nicht schaden!“ Das ist wenig, das ist viel. ■

Karl Wimmler

Das Gegenwärtige des Vergangenen

Erzählungen. 156S., brosch., €16 (Kitab Verlag, Klagenfurt)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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