Fluss, Schiff, Fahrt

Zwei unterschiedliche Projekte nehmen eine Neuvermessung des europäischen Hauptstroms,der Donau, vor: Andreas Müller-Pohle fotografisch, Christian Reder und Erich Kleinmaterialreich in einem doku-mentarischen Sammelband.

Die Donau ist nicht nur der europäische Fluss, sie ist auch eine geistes- und kulturgeschichtliche Lebensader des Kontinents. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Gesellschaftswissenschaftler und Künstler sich immer wieder daran machen, dem Strom und seinen Verzweigungen in der Kulturgeschichte nachzuspüren. Der Zerfall des Sowjetsystems und die dadurch ausgelösten Umwälzungen der Machtverhältnisse im Donauraum führten zur Herausbildung eines Gesellschaftstypus, der mit dem Begriff „Transformationsstaaten“ mehr verschleiert denn erklärt wird.

Mittlerweile sind die meisten dieser Staaten Mitglieder der EU, und Europa kommt angesichts der verwirrenden Auftritte der Neuen nicht aus dem Staunen heraus. Einstige Musterschüler wie Ungarn dümpeln in Stagnationskrisen dahin, während nationalistische Zündler zu Herolden einer radikalen Marktwirtschaft wurden, die mit aggressivem Steuerdumping erfolgreich Großinvestoren keilen. Andere zerstörten ihre industrielle Basis durch mehrere vom Zaun gebrochene Kriege, während ehemalige Bruderrepubliken sich anschicken, die letzten unversehrten Küstenlandstriche mit den Segnungen des Luxustourismus zu beglücken. Und rumänische und bulgarische Regierungs- und Agrarexperten verhelfen den Beamten der EU-Antikorruptionsbehörde zu neuen Erkenntnissen in kreativer Buchführung. Mag das Bild zuweilen chaotisch anmuten, an einem besteht kein Zweifel: Ostmitteleuropa zählt zu den dynamischsten Regionen der Gegenwart. Eine Welle von Analysen über einen neu gestalteten Donauraum war daher nur eine Frage der Zeit.

Zwei Publizisten beziehungsweise ihre Teams führen diese Neuvermessung des europäischen Hauptstroms an. Zwei Projekte, deren Ansatz unterschiedlicher nicht sein könnte, führen den Südosten des Kontinents nach den Jahrzehnten der Isolation wieder an Europa heran. Da ist zum einen das ohne einen einzigen Fördercent zustande gekommene „Danube River Project“ des deutschen Fotografen Andreas Müller-Pohle, der in einem großzügig gestalteten Bildatlas versucht, den Donaustrom zu erfassen. In seiner schieren Materialfülle fast erdrückend holt das zweite, von Christian Reder und Erich Klein herausgegebene Buch „Graue Donau, Schwarzes Meer“ sehr weit, bis ins Reich der Assoziationen, aus. Eine teils faszinierende, teils aber auch enervierende Vielfalt an Zugängen soll das soziokulturelle Umfeld eines erweiterten Donauraums abbilden.

In seinem Bildatlas wendet der Fotograf eine ungewöhnliche Methode an: Er fotografiert den Strom weitwinklig aus der Wasserperspektive, wobei der obere Bildteil die Landschaft, der untere das Geschehen unter Wasser zeigt. Die klassischen Ansichten von Städten, Burgen und Brücken sind ebenso vertreten wie abgeschiedene Orte in den weitläufigen Aulandschaften der Tiefebenen. Weit mehr als eine publizistische Marotte sind die am unteren Bildrand angeführten chemischen Analysewerte von Wasserproben an den Aufnahmeorten. Der Betrachter erfährt solcherart, dass sich nach Linz die Bleikonzentration um das Zwanzigfache erhöht, nach Bratislava verzehnfacht sich der Wert. 100 Kilometer stromabwärts, im ungarischen Donauknie bei Visegrád, erfüllt der Wert aber fast die Vorgaben für Trinkwasser. Für das ebenfalls schwer toxische Quecksilber gilt Ähnliches. Die Filterfunktion des mächtigen Schotterkörpers, welchen die Donauauen unterhalb des gigantomanischen Kraftwerks Gabcikovo bilden, ist also nach wie vor wirksam. Der Eintritt der Donau ins Schwarze Meer, wo sich die Flussfracht der zehn Donauländer zu einem einzigartigen, wahrlich europäischen Sediment verdichtet, bildet den Abschluss des Bandes.

Wo das Buch des Fotografen endet, dort setzt das Kompendium „Graue Donau, Schwarzes Meer“ neue Maßstäbe. Die Herausgeber vom Zentrum für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für Angewandte Kunst in Wien fahren mit schwerem Geschütz von EU-Fördergeldern und umfangreichen Forscherteams auf, um den Donaumythos neu zu deuten. Sie tun dies, indem sie den Donauraum um das Schwarze Meer erweitern, wobei die Halbinsel Krim sowie die beiden urbanen Pole der Region, Odessa und Istanbul, als natürliche Schwerpunkte erscheinen.

Gespräche mit Balkan-Experten wie Wolfgang Petritsch, Dragan Velikic, dem Exbotschafter der Republik Serbien in Wien, dem Fotografen Erich Lessing sowie den Schriftstellern Mircea Cartarescu und Juri Andruchowytsch oder dem Krim-Tataren Mustafa Djamiljow ergänzen Essays von Christian Reder. Wer weiß schon, dass Béla Kun nach der ungarischen Räterepublik in führender Parteiposition auf der Krim landete? Dass Lenin nach den Pogromen im Bürgerkrieg gemeinsam mit der jüdisch-amerikanischen Organisation Joint das Projekt einer agrarisch verfassten jüdischen Krim-Republik forcierte, gleichsam als kommunistisches Gegenmodell zum künftigen Israel? Dass jede zweite Hollywoodgröße Wurzeln im östlichen Donauraum hat? Wir erfahren sogar, dass selbst der legendäre Erfinder der Zeichentrickserie Simpsons einer aus der Ukraine geflüchteten Mennonitenfamilie entstammt.

Mit Informationen dieser Art wird der Leser überreichlich versorgt und die Gefahr, dass man des fortwährenden Namedroppings müde wird, ist groß. Und doch wird das Ziel der Herausgeber, gegen Stereotype über Ostmitteleuropa anzuschreiben, überzeugend eingelöst. Wer sich für Geschichte, Kunst und Kultur im Donauraum interessiert, wird an der Detailfülle des Werks seine Freude haben. Auch erfahrene Donaukenner werden immer wieder auf Neues stoßen. So zum Beispiel auf frühe Reisebeschreibungen aus der Neuzeit, die belegen, dass der Strom schon lange vor Einführung der Dampfschifffahrt eine viel befahrene Wasserstraße war. Ogier Ghislen de Busbecq beispielsweise, ein aus Spanisch-Flandern kommender Humanist, war 1555 als erster Botschafter der Habsburger nach Konstantinopel geschickt worden und unternahm zweimal eine Reise die Donau stromabwärts. Seine in Latein abgefassten „Briefe aus der Türkei“ dokumentieren, mit welcher Selbstverständlichkeit und Toleranz damals im Osmanischen Reich Fremdes wahrgenommen wurde, sie belegen, wie modern das türkische Staatssystem war, in dem nur „persönliche Verdienste und Tapferkeit“ zählten und jederzeit auch „Söhne von Schafhirten“ höchste Ämter erreichen konnten, „während im westlichen Europa alles von der Geburt abhing, die allein Wege zu höheren Positionen eröffnete“.

Die Donau war keine Einbahnstraße. Westeuropäer, wie der bekannte Orientalist Fallmerayer, reisten die Donau stromabwärts und publizierten darüber. Im Gegenzug zogen aber auch türkische Weltenbummler stromaufwärts und hinterließen wie Evliâ Çelebi im Jahr 1665 gleich eine zehnbändige Reisebeschreibung ins „Ghiaurenland und die Stadt und Festung Wien“. Auch die Donaureisen von Hans Christian Andersen (1842) und dem alternden, aus Wien flüchtenden Franz Grillparzer, der trotz Seuchen- und Schiffbruchgefahr ein Jahr später die Strapazen einer Donaureise auf sich nahm, werden gestreift. Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass starke britische Interessen am Donauhandel bestanden. Sie gingen auf die „Levant Company“ (1580–1825) zurück, die von ihrem Hauptquartier im heute syrischen Aleppo aus ihr Export-Import-Monopol im Mittelmeer organisierte und dabei einen Geschäftsumfang erreichte, der sich phasenweise mit jenem der East India Company messen konnte.

Die historischen Abrisse werden von Texten über die zeitgenössische Donau flankiert. Sie beschreiben die Energiegewinnung am Strom und skizzieren die ingenieurtechnischen Leistungen bei der Errichtung der Donaukraftwerke. Das Kraftwerk Freudenau ist weltweit das einzige Flusskraftwerk in einer Millionenstadt. Seine Errichtung war so teuer, dass die EU sich bereit erklärte, die Kosten als stranded investment anzuerkennen. Dass acht österreichische Donaukraftwerke im Rahmen eines Leasing-Vertrags an eine amerikanische Finanzgesellschaft verkauft wurden und derzeit mit einer Rückkaufoption zurückgeleast werden, wird hoffentlich kein böses Erwachen nach sich ziehen.

Von den Rüstungspionieren der jungen UdSSR ist ebenso ausführlich die Rede wie vom Odessa Tschechovs, Oleschas und Isaak Babels. Dem griechischen Freiheitskampf und den griechischen Wurzeln der Stadt sind ebenso Beiträge gewidmet wie der Schlacht um Budapest im Zweiten Weltkrieg und dem 56er-Aufstand. Bogdan Bogdanovics Gedenkstätte für das ehemalige KZ Jasenovac wird von Friedrich Achleitner kenntnisreich besprochen. Die Umwelthistorikerin Ortrun Veichtlbauer untersucht in einem spannenden Beitrag die Donaupläne des Dritten Reiches und schildert die unglaubliche Geschichte des 1941 von der Gestapo enteigneten Meiereihofs Tuttenhof bei Korneuburg, der ein Institut für Kulturpflanzenforschung beherbergen sollte, welches die Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrags in den eroberten Gebieten des Ostens zum Ziel hatte. Heute dient das 1666 errichtete Gebäude als Lager eines Golfplatzes.

Seltsam mutet an, dass man über die gegenwärtige Donauschifffahrt, sowohl die Ausflugs- als auch die Frachtschifffahrt, wenig bis nichts erfährt. Dass die Anzahl der am Strom kreuzenden Kabinenschiffe sich in den letzten Jahren vervielfachte, dass es keinen Fluss auf der Erde gibt, der eine derartige Vielfalt an Anrainerstaaten, Reedereien und Schiffstypen aufweist, dass auf der Donau seit Jahren Kabinenschiffe mit den Heimathäfen New York, Pnom Penh und La Valetta unterwegs sind, dass die Schiffswerften in Osteuropa einen Aufschwung erleben – darüber findet sich kein Wort. Auch die bewusste Aushungerung der Schiffswerft Korneuburg bleibt ebenso unerwähnt wie das Alltagsleben der Donauanrainer kaum Eingang ins Buch findet. Vom konkreten Leben am Fluss erfährt man leider wenig.

Bei einer Neuauflage des Bandes würde man dem in seiner Materialfülle und gedanklichen Weite beeindruckenden Buch, das jetzt schon als Standardwerk zum Thema bezeichnet werden muss, ein strengeres Lektorat wünschen. Sätze wie „Die Donau, als Schnittlinie durch erahnbar Existenzielles, als grauer Fluss der Lager, als grauer Fluss durch Extremsituationen und dunkle Phasen der Geschichte, fließt an Zonen des Erinnerns vorbei, als Sinnbild ablaufender Zeit“, sind angesichts der für sich sprechenden Fakten in den Essays unnötig. Wirklich ärgerlich allerdings ist die grafische Gestaltung des im Wortsinn gewichtigen Werkes. Komplexe Inhalte in einem extrem kleinen, engzeiligen Seitenwust garniert mit briefmarkengroßen Fotos darzubieten, kommt einem Anschlag auf das Augenlicht des Lesers gleich. Dass ein verdienstvolles und ambitioniertes Buch den Geboten der Lesbarkeit derart Hohn spricht, ist ein Donaurätsel der besonderen Art. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2008)

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