Das Land einfrieren

Der Chronist und Zeuge des Absterbens der DDR ist von nun an Uwe Tellkamp. Sein Wenderoman „Der Turm“: ein gewaltiges Gesellschaftspanorama.

Die Ressourcen waren knapp in der DDR und andernorts im Sozialismus, aber eines stand überreichlich zur Verfügung: Zeit. Weil Zeit eben nicht Geld war, wie im Kapitalismus, floss sie träge dahin oder sie stand einfach nur still wie ein Tümpel. Wo ein Engpass dem nächsten folgte, gab es, trotz aller Propaganda vom „Aufholen, ohne zu überholen“, Wartezeit in Fülle, und Wartezeit war Gesprächszeit und Denkzeit, jedenfalls die Zeit einer vom System so nie vorgesehenen Muße. In ihren letzten Jahren muss die DDR vollends zum Zeit-Stillstand gekommen sein, fast wie ein Kranker, der nur noch auf sein bevorstehendes Ableben wartet. Darin erinnert sie an andere in Trägheit erstarrte Gesellschaftsordnungen: an das späte Zarenreich oder an die letzten Jahre der habsburgischen Monarchie. Das Zarenreich hat Tschechow in Worten und Szenen erfasst, das Habsburgerreich Doderer. Der Chronist und Zeuge des Absterbens der DDR ist von nun an Uwe Tellkamp. Tschechow, Doderer, Tellkamp, man darf die drei Namen ruhig nebeneinander setzen, um den Rang des Romans „Der Turm“ zu beschreiben. Ist dies nun der immerfort erwartete und nie eingetroffene „große Wenderoman“? Ja – wenn auch die Wende selbst in ihm gar nicht mehr vorkommt.

Die Zeit steht still Anfang der Achtzigerjahre in Dresden am verdreckten „Elbischen Fluss“, im „Tal der Ahnungslosen“, wohin kein Westfernsehen dringt. „Soll ich Ihnen sagen, was Dresden ist? Dieses Emirat des Bohnerwachses und der Gummibäume?“. Tellkamps Roman erzählt auf beinahe 1000 Seiten nicht nur von dieser besonderen Nischensituation, er bringt sie auch in seinem eigenen Formgesetz zum Ausdruck. Wie viel Zeit musste oder muss man haben, um die Gespräche dieses Romans zu führen, um die Bücher zu lesen und die Tagebücher zu führen, aus denen in ihm zitiert wird? Wie viel Zeit braucht es, um dieses gewaltige Menschen- und Gesellschaftspanorama aufs Papier zu bringen, und wie viel Zeit wiederum, es zu lesen? Sowohl auf der Seite des Produzenten wie der des Rezipienten wird hier ein Zeitaufwand und eine Bereitschaft zur Aufmerksamkeit veranschlagt, die unsere vorherrschende Zeitökonomie nicht vorsieht. Man lege also einmal alles Übrige beiseite und widme sich Tellkamp. Es lohnt sich.

Im „Turm“ zu Dresden leben Menschen, die, anders als es der „entwickelte Sozialismus“ vorsieht, ihre bürgerlichen Neigungen als Form des Widerstands kultiviert haben. Ins Tal der Ahnungslosen scheint die DDR-Propaganda so wenig durchzudringen wie die westliche Popmusik. Man lebt im Turm, in der „pädagogischen Provinz“, wie das „1. Buch“ überschrieben ist. Man lebt hier, während Breschnew und Reagan in einen neuen Kalten Krieg verfallen sind, in einer Art Goethezeit. Jedenfalls tut das Familie Hoffmann. Richard Hoffmann, um die fünfzig, ist ein kunstsinniger Chirurg, seine Frau Anne ist Krankenschwester, und ihr Sohn Christian, die Hauptfigur des Romans, ein widerspenstiger Schüler der „Eos“ (der „Erweiterten Oberschule“), der sich mit Büchern vor den Widrigkeiten der Schule abschottet. Das alte deutsche Schema von Bildung und Kultur, es lebt ungebrochen fort in Familie Hoffmann, und es wird als oppositionelle Geste gegen den Arbeiter- und Bauernstaat in Stellung gebracht.

Verbindungen zur Nomenklatura

Zur Hoffmann-Familie gehört auch Annes Bruder Meno Rohde, Verlagslektor mit Verbindungen nach „Ostrom“, dem Viertel der DDR-Nomenklatura, wo die roten Aristokraten leben, die sich, ihrer Verdienste wegen, schon mal ein freies Wort über Erich Honecker erlauben dürfen. Und um die Familie herum gibt es Figuren, die dem wirklichen Leben abgewonnen sind: Arbogast etwa, der großbürgerliche Wissenschafts-Unternehmer, hat wohl sein Vorbild in Manfred von Ardenne, während man in dem Salonkommunisten Albin Eschschloraque (welch ein Name!) Züge von Peter Hacks angedeutet sieht. Von diesen Figuren wird nun in Tellkamps Roman aufs Ausführlichste erzählt, oder sie erzählen selbst, in Tagebuchauszügen oder langen Briefen (man schrieb noch Briefe in der DDR – auch weil das Telefon selten funktionierte). Am Horizont dieser späten Idylle zeichnen sich indes die ungeheuerlichsten Veränderungen ab; noch sieben Jahre, vom Anfang des Romans an gerechnet, und diese Welt wird untergegangen sein. Aber das wissen die Figuren natürlich nicht, so wenig, wie es irgendwer noch im September 1989 vorausgesagt hätte. Soll man ernsthaft über eine Ausreise nachdenken, und welche Konsequenzen hätte sie für die Zurückbleibenden? Soll man für einen Studienplatz in Medizin seine sozialistische Gesinnung unter Beweis stellen?

Ein Bürger der DDR ist jederzeit erpressbar, er wird beobachtet, abgehört, weswegen man sich zum freien Gespräch auf der Straße und nie in Wohnungen trifft. Richard Hoffmann hat eine Geliebte, mit der er sich jeden Donnerstagabend trifft (seiner Frau erzählt er, er sei im Hallenbad), und natürlich weiß die Staatssicherheit davon. Tellkamps Roman zeigt sehr anschaulich, wie weit und tief die totalitäre Herrschaft in der DDR reichte. Es fehlt ihr zwar der mörderische Grundzug anderer totalitärer Regimes, aber auch diese Herrschaft schafft es, das Leben ihrer Untertanen planmäßig zu vergiften (und die Umwelt dazu).

Es sind vor allem die in den Roman eingestreuten Tagebuchnotizen des Lektors Meno Rohde, in denen die spezifische Dresdner Befindlichkeit, der Geist einer kaputten und doch nie ganz zu zerstörenden Schönheit, zur Sprache finden: „Und ich erinnere mich an die Stadt“, schreibt er, „das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang in den Plattenspielern, knisternd unter den Abtastarmen im dünenden Vinylschwarz, Lichtspindeln hin zum Gelbetikett der Deutschen Grammophon, während draußen der Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern auftürmte, die den Strom in ihren Zangen pressten, und, wie den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand, bremsen... aber die Uhren schlugen“. Die Uhren schlagen den ganzen langen Roman hindurch, bis sie schließlich auf der letzten Seite, am 9. November 1989, ans Brandenburger Tor schlagen.

Eigentlich muss das eine niederschmetternde Einsicht für die DDR-Kulturpolitik gewesen sein: Während sie die Einheit von Hirn und Hand im Geiste des Sozialismus predigte, haben ihre besten Köpfe, zum Beispiel der junge Uwe Tellkamp, in ihrem Schreiben und Denken eine „spätbürgerliche“ Sensibilität und Raffinesse entwickelt, die ihnen im Westen wohl längst abhanden gekommen wäre. Wo würde sonst der Unterschied zwischen den Biersorten „Wernesgrüner“ und „Radeberger“ feinsinniger erfasst? Das „Wernesgrüner“ sei „feiner, sprossiger, waldiger als das Radeberger“, sagt Meno einmal.

Aber Tellkamps Roman spielt nicht nur im Dresdner erzbürgerlichen Milieu, er nimmt die ganze DDR-Wirklichkeit in den Blick und muss es tun, wenn er die Wahrheit über die „versunkene Welt“ erzählen will. Der junge, scheue und hochmütige Christian Hoffmann, von dem es einmal heißt, er habe als 17-Jähriger den „Tonio Kröger“ „schon lange“ nicht mehr gelesen, hat Lust auf Opposition. Nicht nur gegen die Staatspropaganda, sondern gegen alle, die seinen hohen Kanon aus schöner Literatur und klassischer Musik nicht teilen. Er eckt in der Schule an, ein Vater muss einen Staranwalt bemühen, um ihn vor einem Verweis zu bewahren, und er fällt wieder unangenehm auf, als er seinen dreijährigen Militärdienst absolviert, an dessen Ende ein Medizinstudienplatz in Leipzig winkt. Während die anderen Romanfiguren auf dem Archipel Dresden verharren, muss Christian hinaus ins feindliche Leben, zur NVA (Nationale Volksarmee), und als er dort einen Unfall mit Todesfolge verursacht, in die Strafkompanie und in die Karbidöfen eines Chemiewerks im Leuna-Gebiet.

Das ist nun der größtmögliche denkbare Kontrast zur Dresdner Feinsinnigkeit. Und Christian verwandelt sich in der Militärhaft zumindest nach außen hin in einen sozialistischen Menschen, er panzert sich gegen die Härten mit Schweigen und Gleichgültigkeit, er wird zu einer Art illegitimem Helden des Akkords. Tellkamp, den mit seinen Figuren einiges verbindet (er war selbst Chirurg und Panzerfahrer) schaut mit derselben Klarheit und Schärfe in diese stumpfe, gefährliche Welt hinein, mit der er den Dresdner „Turm“ beobachtet. Wenn dieser Roman „buddenbrooksches Format“ hat, wie der Klappentext nicht zu Unrecht meint, dann doch mit einem Unterschied: Es gibt bei Tellkamp neben der liebenswürdig untergehenden Bürgerwelt auch das brüllende Chaos einer heroisch-sinnlosen sozialistischen Arbeitswelt.

Am anderen Ende ist „Der Turm“ ein Stück hochexpressive Lagerliteratur: „Es klang“, heißt es da vom Karbidofen, „als ob eine Bisonherde durch die Halle gejagt würde, Klopfen und Knattern, manchmal ein ohrenstechendes Scheppern, als hätte man Waggons voller Bleche ausgeschüttet. Die Öfen soffen Strom – so viel, dass an manchen Tagen in Halle-Neustadt, wenn die Frühschicht aufstand, das Licht erlosch und Hochhausklötze in der Dämmerung standen.“ Und Christian hat am Ofen das Gefühl, „zu einem neuartigen Lebewesen, einem Zwitter aus Fischotter (Schweiß, die ofenabgewandte Seite) und Broiler (zur Ofenöffnung) geschmolzen zu werden“. Das ist, bei allem Respekt vor der epischen Breite, vielleicht die allergrößte Kunst dieses Romans: die stimmige Beobachtung des Einzelnen, in der noch immer eine Restwut über das große Ganze namens DDR nachzuglühen scheint.

Welche Vielfalt an Schreibformen!

Der „große Wenderoman“ also, mit dem keiner mehr so richtig gerechnet hatte (wer Tellkamp kennt, der musste allerdings mit ihm rechnen): und schon steht unvermeidlich die Frage im Raum, ob denn der große Roman (mit Thomas Mann oder Doderer als Vergleichsgrößen) heute noch statthaft sei. Seinem Formprinzip nach ist „Der Turm“ tatsächlich „klassisch“ – und gerade deshalb offener und vielseitiger als viele der heute geschriebenen Mittelgewichts-Romane. Natürlich, hier wird (eine) Geschichte erzählt, es gibt eine lineare Handlung samt Figuren. Aber welche Vielfalt der Schreibformen steht Tellkamp zu Gebote: Meditationen, lyrische Passagen, Tagebuchnotizen, Briefe, Essayistisches, Dialoge und anderes mehr.

„Der Turm“ erinnert daran, dass die Literatur schon vor der Moderne modern war, etwa in den „Wanderjahren“ Goethes. Man wüsste nicht, welche Form den geschilderten Verhältnissen angemessener wäre. Andere DDR- oder Post-DDR-Autoren, man denke an literarische Extremisten wie Einar Schleef oder Reinhard Jirgl, haben sich an Großexperimenten versucht, neben denen sich Tellkamps Roman beinahe konservativ ausnimmt. Aber auch er ist ein Extremist, ein Extremist der Schönheit und des, um mit Doderer zu sprechen, „totalen Romans“. Um den Vergleich noch einmal zu bemühen: Uwe Tellkamp hat die „Strudlhofstiege“ der untergehenden DDR geschrieben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2008)

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