Gnade statt Gebote

Wie sollte Theologie nach Eugen Drewermann aussehen? In seinem jüngsten Buch entwirft er eine „Theologie vom Menschen her“, in der Gefühle und Antriebe, Sehnsüchte und Ängste, Aggressionen und Zwänge ernst genommen werden. Theologie sei mit Psychotherapie zu verbinden.

Eugen Drewermann gehörte nicht zu den 16 Fachleuten, die an der ersten Session der Außerordentlichen römischen Bischofssynode zum Thema Familie teilnehmen durften. Hätte er dazugehört, wäre Drewermanns Rede über die Frage der Zulassung von wieder verheirateten Geschiedenen zur Kommunion wohl etwa wie folgt ausgefallen: „Die Ehe ist nach katholischer Lehre das einzige Sakrament, das nicht der Pfarrer oder der Bischof spendet, sondern das die Eheleute einander sich selbst schenken. Dennoch wirken sich der römische Machtanspruch und Machtmissbrauch gerade in diesem Bereich am ärgsten aus: Es gibt – neben dem Vermögensrecht – kein Gebiet des kirchlichen Gesetzbuches, das so detailreich behandelt wird wie die Bedingungen für das Zustandekommen einer Ehe oder deren Annullierung. Bei Letzterer muss die formaljuristische Ungültigkeit der Ehe nachgewiesen werden – so als hätten die letzten 20 Jahre gemeinsamen Lebens eigentlich gar nicht stattgefunden. Unter dem jetzigen Papst ist eine Diskussion darüber möglich geworden, ob wieder verheiratete Geschiedene nach einem persönlichen Gespräch mit dem Pfarrer, dem sie ihre Schuld eingestehen, wieder offiziell zum Kommunionsempfang zugelassen werden sollten. Man gewinnt jedoch den Eindruck, die Rede von der neu entdeckten Barmherzigkeit sei zumindest in der deutschen Kirche vor allem der Versuch, die Kirchenaustrittszahlen niedriger zu halten. Eine ehrliche Reform des bisherigen Standpunktes könnte erst dann einsetzen, wenn die Psychologie von Paarbeziehungen theologisch aufgearbeitet würde: Wann eigentlich sind Menschen fähig, einander Gottes Gnade zu schenken?“ (Diese Rede ist eine Montage aus Zitaten des hier besprochenen Buches.)
In dieser Rede wird Drewermanns Grundanliegen, das er im vorliegenden Band umfassend, sprachgewaltig und akribisch genau darlegt, klar und deutlich sichtbar: Gottes frei geschenkte Gnade und bedingungslose Vergebung statt absoluter Gebote und kirchlicher Opferideologie, Verständnis für den mythisch-symbolischen Hintergrund biblischer und dogmatischer Aussagen wie Erbsünde, Jungfrauengeburt und Menschwerdung Gottes statt Festhalten an der objektiven Tatsächlichkeit von biblischen Geschichten und kirchlichen Dogmen, Durcharbeitung psychischer Ängste und ihre psychotherapeutische Bewältigung statt einer Theologie, die jegliche Psychologie methodisch ausklammert und an der Existenz des Teufels festhält. (Drewermann informiert uns darüber, dass auch Papst Franziskus, dessen Reformbemühungen er sonst durchaus anerkennt, nichts dabei findet, „vom ,Teufel‘ so selbstverständlich zu reden wie vom Dom zu St. Peter in Rom“.)
Bevor ihm im Oktober 1991 die Lehrbefugnis entzogen wurde, hatte Drewermann viele Jahre lang in Paderborn Katholische Dogmatik doziert. Im vorliegenden Buch artikuliert er dann auch seine Fundamentalkritik am kirchlichen Dogma, an vatikanischer „Senilhierarchie“ und verbeamteten Theologieprofessoren anhand der dogmatischen Teilgebiete oder Traktate: Schöpfungslehre (Ursache der Welt), Erlösungslehre (Erbsünde und Christi Kreuzesopfer), Christologie (Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch), Ekklesiologie (Kirche, Sakramente), Eschatologie (Auferstehung, Himmel, Hölle und Fegefeuer) und Gotteslehre (Wesen und Eigenschaften Gottes, Dreifaltigkeit).
Es ist im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, all das aufzuzählen, was Drewermann infrage stellt. Das katholische Priestertum und das Papstamt, die beide biblisch nicht begründbar seien, gehören jedenfalls ebenso dazu wie die Lehre von Gott als Schöpfer der Welt, der Naturgesetze willkürlich außer Kraft setzt, und die Lehre von einer ewigen Höllenstrafe.
Wie sollte Theologie nach Drewermann aussehen? Er möchte, wie er es nennt, eine „Theologie vom Menschen her“ konzipieren, in der menschliche Gefühle und Antriebe, Sehnsüchte und Ängste, Aggressionen und Zwänge ernst genommen werden. Deshalb sei Theologie mit Psychotherapie zu verbinden: Die Befreiung, die Jesus verkünde, sei „nach dem Modell heutiger Psychotherapie zu verstehen“; das Vertrauen, das der Mensch Gott entgegenbringt, gleicht dem Vertrauen in einen Psychotherapeuten, der einem Klienten das Gefühl vermittle, „vorbehaltlos akzeptiert zu sein“.
Drewermanns theologisches, religionswissenschaftliches, psychologisches und literarisches Wissen ist beeindruckend. Nicht wenige seiner kirchen- und theologiekritischen Anfragen sind bedenkenswert. Sie werden von der akademischen Theologie im Allgemeinen wesentlich ernster genommen und differenzierter beantwortet, als Drewermann das zu konzedieren bereit ist. Dass er seine umfassende Bildung durch unnötig lange Fußnoten demonstriert, ist allerdings befremdlich. Merkwürdig ist auch, dass Drewermann Psychologie und Psychotherapie als „Fremdprophetie“ glorifiziert und sein kritischer Geist all jene Anfragen ausblendet, die vonseiten der Therapieforschung und der politischen Psychologie diesbezüglich gestellt werden. „Psychotherapie kann helfen“, hat Reinhard Tausch, der im Vorjahr verstorbene Altmeister der Gesprächspsychotherapie im deutschen Sprachraum ernüchternd festgestellt, „aber sie kann nutzlos sein, ja bei wenig qualifizierten Psychotherapeuten kann sie schaden“.
Vielleicht ist es doch nicht ganz ungefährlich, sich Gott als Psychotherapeuten vorzustellen?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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