Es gibt noch viele Noras

Liebe, Sex, Schwangerschaft, durcheinandergeschüttelt wie in einem Kaleidoskop. Der Debütroman von Nadine Kegele.

Nadine Kegele, die im vergangenen Jahr den Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb gewonnen hat, hat nun ihren Debütroman vorgelegt, ein Buch über Beziehungsgeflechte und Emanzipationsversuche. „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“ ist der erste Teil einer geplanten Tetralogie.
Die Vorarlberger Landesmeisterin im Tastaturschreiben hat sich großer Themen angenommen: Liebe, Sex, Schwangerschaft, Kindesmisshandlung, nicht in dieser Reihenfolge, sondern durcheinandergeschüttelt wie in einem Kaleidoskop und dargestellt von unterschiedlichen Protagonistinnen.

Erster Auftritt Nora (wer an Henrik Ibsen denkt, hat recht), die ihre Mutter im Krankenhaus besucht. Die Mutter war früher groß gewesen und stark, auch unberechenbar, „sie hatte hingehauen mit ihren Händen wie mit Pranken“, nun liegt sie klein zusammengeschrumpft in einem schneeweißen Spitalsbett, von einer „unmenschlichen Menge Insulin“ niedergestreckt. Bei einem späteren Besuch wird Nora an der Türschwelle zum Krankenzimmer stehen und beobachten, wie ihre Mutter von einer Krankenschwester gewaschen wird.

Nora „hofft, sie hat ihr die Flasche gegeben, der Gedanke, aus diesen Brüsten getrunken zu haben, würgt sie im Hals“. In diesem Satz ist das ganze Elend zwischen den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen enthalten, die emotional nicht zusammenkommen. Der Krieg ist immer noch nicht vorbei, die pädagogische Propaganda vergangener Jahrhunderte wirkt in den Köpfen weiter, die schwarze Pädagogik erhebt wieder und wieder ihr grässliches Haupt. „Wenn ein Kind weint, hat es recht“: ein Satz für das Elternstammbuch. Nora wird umdrehen und davonlaufen, um nie wieder zurückzukommen.

Zweiter Auftritt Erika. Sie könnte Noras Mutter sein, vielleicht ist sie es auch, aber das ist im Grunde gar nicht wichtig, sie ist eine Mutter, wie es viele gegeben hat und weiterhin geben wird, diese hier zahlt jedenfalls noch in Schillingen. Man taucht in ihren zeitlosen Alleinerzieherinnenalltag ein, in die einsame Psyche einer „überforderten“ Mutter, eine, die ihre Kinder nicht „gut begleitet“, weil sie „keine Begabung hat für die Familie“. Aber auch, weil man sie alleine lässt mit den Kindern, weil ihr niemand hilft, weil niemand so genau hinschaut.

Erika schützte ihre Kinder nie vor den gewalttätigen Männern, die ihre Partner waren, nur einmal begehrt sie auf: „Meine Kinder schlage nur ich!“ Irgendwann werden die Kinder dann doch von der Fürsorge abgeholt, Erika bleibt allein zurück, das weitere Schicksal der Kinder ist ungewiss. Man könnte es an der erwachsenen Nora festmachen, ihre Kindheit ähnelt der von Riki, der kleinen Erika, Erikas Tochter. Nicht einmal einen eigenen Namen hat das Kind bekommen, auch das ein Symbol der ewigen Wiederkehr, die Frauenschicksale ändern sich im Laufe der Zeit offenbar wenig.

Noras Flucht vom Krankenbett der Mutter scheint ihr erster Emanzipationsversuch zu sein. In ihren Beziehungen zu Männern bleibt sie unglücklich, bei einem entdeckt sie Fotos von nackten Kindern und erinnert sich, dass er auf der Straße immer nur den schmalen Mädchen nachgeschaut hat und nie den ausgewachsenen Frauen, nur den Püppchen eben.

Der Letzte, Anton, verlässt sie, weil sie nur Sex miteinander hatten und keine Beziehung, so drückt er es aus. Nora hat strikt darauf geachtet, jeden Tag mit ihm zu schlafen, damit er sie nicht verlässt. Das hat Anton offenbar irgendwie missverstanden und erinnert dabei frappant an Torvald, den Mann von Ibsens Nora, der Nora in ihrem Puppenheim wegen eines „Vertrauensbruches“ die Hölle heiß macht, der ihm dessen ungeachtet das Leben rettet.

Auftritte Ruth, die Füchsin und Vera. Freundinnen Noras, die unterschiedliche weibliche Lebensentwürfe repräsentieren, dazwischen die Nachbarin und Holocaust-Überlebende Sarah Tänzer mit ihrem Hund. Die Anfangsszene des Buches erzählt von der Einschläferung eines Hundes, der ohne zu bellen einige Tage in der Wohnung seiner toten Besitzerin gewacht hatte. Dass es sich um Sarah Tänzer handelt, wird erst im Lauf der Lektüre deutlich.

Nadine Kegele hat ein unsentimentales, in eine spröd-poetische Sprache gekleidetes mehrstimmiges Buch geschrieben. Ihre Prosa ist trotz der niederdrückenden Grundstimmung nicht schwer, ihr Umgang mit der Sprache ist spielerisch, sie erzählt nicht alles – gekonnt gesetzte Aussparungen lassen einen angenehmen Freiraum im Kopf –, aber sie erzählt weiter: Es gibt noch viele Noras. Der zweite Teil der Tetralogie ist in Arbeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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