Der Kaputte

Nahezu alles misslang ihm im Leben, und buchstäblich alles gelang ihm im Gedicht: Georg Trakl – Versuch einer Annäherung im 100. Todesjahr.

Rebellion war seine Sache nicht, nicht einmal Aufbegehren. Dagegen prägten Schuldgefühle und Untergangsszenarien, verzweifelte Ergebung und scheinsanfte Hoffnungslosigkeit seine Dichtungen. Georg Trakl beschrieb, wie magisch und bedrückend die Dinge sein können, wenn sie als Traum traumatische Wirklichkeit wurden. Das Werden, der evolutionäre Entwicklungsgedanke waren seine Sache gleichfalls nicht, allenfalls in negativer Form als unaufhörlicher Verfall und als ein beharrliches Versinken in sich selbst. Trakls Dichten speiste sich weniger aus dem Bedürfnis, Widerstand gegen die Verhältnisse zu leisten, als vielmehr aus dem Verlangen, dem Unwiderstehlichen Ausdruck zu verleihen.

Man kann es indiskreter formulieren. Der gleichfalls allzu früh verstorbene Lyriker Thomas Kling etwa, dem wir eine stille Revolution in der poetischen Sprache im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verdanken, sprach von Trakls „den Drogen geschuldeter autistischer Tiefgekühltheit“. „Ein Koksjunkie“ sei er gewesen so Kling, „der als Drogist, beziehungsweise dank seines Mäzens, Ludwig von Ficker, auf keinerlei Beschaffungskriminalität angewiesen war.“
Trakl, ein Liedermacher der Vorweltkriegsszene („ein Lied zur Guitarre, das in einer fremden Schenke erklingt“). Der kaputte Typ. Der soziale Versager. Der schwierige, bis unmögliche Freund. Nahezu alles misslang ihm im Leben, und buchstäblich alles gelang ihm im Gedicht. Trakl lebte ein Leben, das auf Gedichte ausgerichtet war. Nur öffentlich vortragen konnte er sie nicht.

Die einzige Lesung, die Trakl gab – zusammen mit dem Prosaisten Robert Michel am 10. Dezember 1913 bei einer im Innsbrucker Musikvereinssaal in der Museumstraße abgehaltenen Veranstaltung der legendären Zeitschrift „Der Brenner“, zu diesem Zeitpunkt längst Trakls wichtigstes Publikationsorgan –, litt denn offenbar unter der betont leisen Art seines Vortrags.

Notorische Befangenheit

Nicht dass Trakl seine Stimme versagt hätte, vielmehr hat er seinen eigenen acht vorgetragenen Gedichten – sie gehören zu den Höhepunkten seines lyrischen Werks („Die junge Magd“, „Sebastian im Traum“, „Abendmuse“, „Elis“, „Sonja“, „Afra“, „Kaspar Hauser Lied“, „Helian“) – ihre wirkungsvolle stimmliche Umsetzung versagt. Oder war das Leise seiner Stimme einfach seiner notorischen Befangenheit und Nervosität geschuldet?

Am 13. Dezember 1913 urteilte über diese eine Lesung der „Allgemeine Tiroler Anzeiger“ auffallend verständig in einem Artikel, der sich zu einer kleinen Charakterstudie über Trakl auswuchs: „Der Dichter las leider zu schwach, wie von Verborgenheiten heraus, aus Vergangenheiten oder Zukünften, und erst später konnte man in den monotonen gebethaften Zwischensprachen [später wiedergegeben als „Insichsprechen“] dieses schon äußerlich ganz eigenartigen Menschen Worte und Sätze, dann Bilder und Rhythmen erkennen, die seine futuristische Dichtung bilden. Allerdings, wann dieses Dichters Zeit gekommen sein wird? – Denn ein Dichter ist dieser stille, alles in sich umtauschende Mensch gewiss, davon überzeugt jedes seiner Gedichte, die Offenbarungen gleich wirken. Aber das Publikum, das von heute und morgen, versteht ihn noch lange nicht.“

So schmal dieses Werk anmutet: Es wirkt überraschend abgerundet, geschlossen, ja, vollendet – trotz seiner zahlreichen Entwürfe, die vor allem eines bezeugen: seinen Sinn für Nuancen und das Erstehen-Lassen von Gedichten durch die Arbeit mit Wortbildern und ganzen Strophenstücken, die er zuweilen wie Vexierbilder umzuordnen verstand.

Dieses Dichten kannte kein Auftrumpfen, keine Überheblichkeit. Trakls poetisches Verhalten, wie es sich aus seinem sprachkünstlerischen Verfahren schließen lässt, war bestimmt und doch tastend, deutlich und doch behutsam, kraftvoll im Sinne von bildkräftig im Ausdruck, das jedoch auf eine zartbesaitete Weise.

Georg Trakls Gedichte – wie immer man sie und den ihnen zugrunde liegenden poetischen Prozess versteht – wurden zu Phänomenen, weil sie noch die widersprüchlichsten Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse auf ihre poetische Grundsubstanz zu reduzieren verstanden. Sie lesen sich als lyrische Konzentrate des Daseins, die sich – in die jeweilige Lebenssituation der Lesenden geworfen – teilweise auflösen und zu schillern beginnen.

Oder sollen wir Trakl eher so sehen: als einen von Inzestschuld gepeinigten, getriebenen Dichter? Und seine Schwester? War sie wirklich die dämonische Figur und Verkörperung des Gefährlichem im Weiblichen, als die sie meist gesehen wird? Georg und Grete – eines der beliebtesten Spekulationsobjekte in Betrachtungen über die Lyriker der literarischen Moderne. Haben sie oder haben sie kein inzestuöses Verhältnis unterhalten? Belegbar ist nur diese eine verhängnisvolle Seite ihrer Beziehung: der Dichterbruder hat die Musikschwester zum Drogenkonsum verführt.

Und sich selbst verführte er poetisch immer wieder zu farblichen Rauschzuständen: Blau, Hyazinthen, Braun, Gelb, Rot, die Trakl-Farben eben, und schon beginnt sie gemeinhin, die Farbenblütenlese, ohne die kein Schulunterricht auszukommen glaubt, wenn es um die deutschsprachige Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts geht. Blau bedeutet . . ., Braun meint . . ., Rot besagt . . . – gibt es einen sichereren Weg zum Verkennen poetischer Verfahren zumal der Trakl'schen Poetologie? Diese Farben waren Farben und sollten nichts als lyrisch durchmischte Farben sein.

Sich Trakl und seiner Dichtung zu nähern bedeutet Zumutungen auszuhalten, im völlig Abwegigen den Normalzustand zu erkennen. Es ist eine Lyrik voll stillen Behauptens, das mit einer einmal sanft, dann wieder abrupt wirkenden Nachdrücklichkeit vorgetragen wird. Dem Leser bleibt kaum eine andere Wahl, als sich in diese poetisch zu Tatsachen erklärten Unwahrscheinlichkeiten zu fügen. Denn als unmöglich erweist sich hier nur das Übliche, Normierte, durch Überlieferung Vorgeformte.
Und das ist wohl die eigentliche Pointe dieses Dichtens: Trakl, der sich an den französischen Symbolisten wie auch an Hölderlin orientierte, verwies gleichzeitig auf die Unmöglichkeit, herkömmliche Vorstellungen oder Wahrnehmungen weiterzuführen. Diese Gedichte verdanken sich lautlosen Eruptionen und Tauschvorgängen; sie wissen von „purpurnen Martern“ („Gesang des Abgeschiedenen“) und sind erfüllt von einem „Resedaduft“, der im „braunen Grün“ entschwebt („In einem alten Garten“). Und dabei kann immer alles tatsächlich auch so sein, wie es in diesen Gedichten steht: Ein Strauch kann voller Larven hängen. Ein „toller Hund“ kann „durch ein ödes Feld laufen“ („Ein Frühlingsabend“). Und Falter können „irre Kreise“ ziehen („In einem alten Garten“). Ob aber ein „kahler Baum sich in schwarzem Schmerz“ krümmt, bleibt unüberprüfbar.

Die zu Tatsachen erklärten Phänomene umgibt etwas Fantastisches, Traumtänzerisches, zuweilen sogar – wenngleich nur vereinzelt – etwas Exotisches, das wie in seinem Karl Kraus gewidmeten Gedicht „Psalm“ eine „Insel der Südsee“ imaginierend ausrufen kann: „Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen, / Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.“ Doch eine solche scheinbar entgrenzende Fantasie eines Dichters, der sich im Juni 1914 immerhin vorstellen konnte, im Sanitätsdienst in den niederländischen Kolonien zu arbeiten und zu diesem Zweck ein offizielles Gesuch gestellt hatte, ein solcher Südseetraum wurde auch im Gedicht „Psalm“ rasch wieder von der harschen Realität eines „bösen Traums“ eingeholt, in dem „die fremde Schwester erscheint“.

Jedes Gedicht Trakls scheint ein Finale zu sein: „Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee / Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden.“ Der Einbruch der Lebenswirklichkeit kann bei Trakl – wiederum selten, aber nachweisbar – geradezu demonstrativ konkret werden, wobei sich selbst dann noch ein Traumbezug erhält: „Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, / Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.“

Weißer Magier mit Schlangen

Diese Zeile aus „Psalm“ entmythologisiert und remythologisiert zugleich. Sein „Psalm“ steht unter dem Eindruck, dass „der Wahnsinnige gestorben“ sei. Vielleicht, dass seine Träume weiterleben und dieses ganze Gedicht, das jeden Widersinn als Faktum verzeichnet, Ausgeburt seiner tot-lebendigen Imagination ist. Dieser begrabene Wahnsinnige spielt in seinem Grab als „weißer Magier mit seinen Schlangen“. In Paul Celans „Todesfuge“ wird der „mit den Schlangen“ spielende Mann wiederkehren, nur dass er nicht begraben ist, sondern seinen Opfern „ein Grab in den Lüften“ geschenkt hat. Auch er ist „wahnsinnig“ als Wächter und Mörder.

Übrigens konnte sich Trakl den „Sohn des Pan“ nicht nur als Straßenarbeiter vorstellen, sondern auch in „grauem Marmor“ gefasst, aber gleichfalls „schlafend“ und damit potenziell träumend, so etwa im „Helian“-Gedicht. Immer kann das Unerwartete in diesen Gedichten geschehen, etwa am Ende des Gedichts „Psalm“, in dem es heißt: „Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.“ Zeigt sich in ihnen eine Offenbarung oder das höllische Grauen im Göttlichen? Was unterscheidet diese Augen Gottes von jenen glühenden Kohlen im Schädel der Nachtmahr? Hier wie auch sonst verweigerte Trakl jeden Kommentar zu seinen Gedichten.

Das Unwahrscheinlichste, was sich daher vorstellen ließe: Trakl, eine sogenannte Poetikvorlesung haltend, Auskunft gebend über die Art und Weise seines Sagens oder lyrischen Sprechens. Trakl ließ uns stattdessen mit seinen Gedichten allein, in Gesellschaft mit ihren Einsamkeiten, die sie ausstrahlen, jedes Gedicht mit seiner besonderen Einsamkeit.

Der Verfall hat in diesen Gedichten seinen eigenen Auftritt: „Verwestes gleitend durch die morsche Stube“ („Amen“). Nichts scheint ihn aufhalten zu können. Allein der Verfall agiert. In Gestalt von „braunen Perlen“ rinnt er „durch die erstorbenen Finger“; er sieht uns in eines Engels „blauen Mohnaugen“ an. Er zeichnet sich an den kahlen Mauern ab und geistert durch die Träume. Dieser Verfall geht mit den Stadien oder „Stufen“ des Wahnsinns einher, der den Einsamen in ein „sanftes Saitenspiel“ versinken lässt, wie es in der „Helian“-Dichtung heißt.
Trakls Gedichte bezeichnen eine spätromantische Disposition im finalen Stadium ihrer Selbstzersetzung. Ein zentrales Objekt dieses Verfalls ist das Ich, das sich in seinen Träumen, Sehnsüchten, mehr oder weniger sublimierten Lüsten auflöst. Aussagefähig und dabei bei sich selbst bleibt allein die Sprache.

Trakls Sprache findet wieder und wieder Worte für die schleichende – nie ostentativ dramatisierte – Dissoziierung seines poetischen Ichs. Sie ist in ihrer tradierten Verbindlichkeit der letzte Anker der poetischen Kunst, mag diese auch zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen und Traumwelten oszillieren. Nur wer diese Sprache wörtlich auffasst, ermisst ihren Ernst und ihr Gewicht. Sie spricht vom Sterben, aber nahezu nie vom Werden.

In der Reihe „Leben in Bildern“ ist im Deutschen Kunstverlag, Berlin, eine Trakl-Bildbiografie von Gunnar Decker erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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