Die Hälfte der hundert Augen schläft nie

Gespenstisch: Simon & Simon zur permanenten Überwachung.

Mit dem RAF-Terror wogte die Debatte in Deutschland, seit 9/11 in der gesamten westlichen Welt: Wir hätten Offenheit, Liberalität, gar den Rechtsstaat übertrieben – und erhielten die Rechnung in Form organisierter Kriminalität und Terrorismus präsentiert. Eine wehrhafte Demokratie müsse in Krisen seine Werte präventiv verteidigen, mit allen Mitteln. Kritiker dagegen warnen, der Staat heble sukzessive die Freiheitswerte aus, die er zu verteidigen vorgibt.

Das Autorenduo Anne-Catherine Simon (Redakteurin der „Presse“) und Thomas Simon (Lehrer an einer Privatschule) hat sich mit „Ausgespäht und abgespeichert“ auf die technischen Aspekte der Debatte konzentriert. Sie haben es geschafft, das so komplexe wie gesellschaftlich hochbrisante Thema kompakt zu fassen. Sie erzählen flüssig, bisweilen ironisch über winzige Funksensoren in Ausweisen, Kleidungsstücken, Haustieren und bereits Menschen, von Sensornetzwerken bis zum planetaren Lauschangriff via geostationäre Satelliten: Die heraufdämmernde schöne neue Welt eines Herrn K. (nicht zufällig an Kafka angelehnt) im Überwachungslabyrinth. Private Daten (wer hat mit wem telefoniert, E-Mails ausgetauscht, welche Internetseiten aufgerufen) werden ohne richterliche Befugnis auf Vorrat gespeichert – wer weiß, wann man sie einmal für Ermittlungszwecke braucht.

Bei der Raster- und Schleierfahndung (verdachtsunabhängigen Kontrollen) ist, in Umkehr der Unschuldsvermutung, jeder verdächtig, darf durchleuchtet werden. Unsere offene Gesellschaft wird sukzessive in einen Orwellschen Überwachungsstaat verwandelt wie unter Argus: Die Hälfte seiner hundert Augen schläft nie. Die technischen Möglichkeiten muten im Einzelnen interessant bis sonderbar an, in der Summe gespenstisch. Die düstere Utopie eines George Orwell in 1984 scheint – kaum zwei Jahrzehnte später – Realität zu werden. DDR-Methoden im Oscar-preisgekrönten Film „Das Leben der Anderen“ wirken dagegen herzig schlicht. Im Land von Sherlock Holmes werden DNA-Daten verhaltensauffälliger Kinder ebenso gespeichert wie von allen Menschen, die in der Nähe eines Tatortes überprüft werden.

Großbritannien ist nicht nur die literarische Heimat des Großen Bruders, sondern auch das Königreich der vereinigten, schon fünf Millionen Kameras. Die Londoner U-Bahn-Attentate 2005 konnten dennoch nicht verhindert werden. Die Autoren bezweifeln, dass die Kontrollpraktiken wirksam sind. Kriminelle sind stets einen Schritt voraus. Sie müssen nur selten so brutal vorgehen wie jene malaysischen Autodiebe, die dem Besitzer einen Finger abschnitten, um den Mercedes zu starten. Nur die breite, unschuldige Masse werde im immer dichteren Informationsnetz gefangen. Ein Gutachten des deutschen Bundeskriminalamtes ergab, dass Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsquote „von derzeit 55 auf 55,006“ Prozent erhöhe.

Kein System ist fälschungssicher. Je mehr gespeichert wird, desto mehr kann missbraucht werden. Nicht nur der Große Bruder spioniert, auch viele kleine. Im Datenbasar könnten sich Arbeitgeber, Konzerne, Werbefirmen und kriminelle Gruppen bedienen. Bei der Wirtschaftsspionage im großen Stil, in der Nachbarschaft im Kleinen: Eine Welt, in der jeder jeden ausspäht.

Die Verfasser zeigen wenig Sympathie für grenzenlose Überwachung – und gleiten dabei nie in Polemik ab. Manche Angst vor Straßengewalt, Terror, ist berechtigt. Allein – Observation betreibe Symptom- statt Ursachenbekämpfung. Kameras an Schulen, im öffentlichen Raum halten Symptome fest, statt asoziales Verhalten ebenso wie Ungerechtigkeit, Verwahrlosung, Perspektivlosigkeit an der Wurzel anzugehen.

Angesichts einer allgemeinen Vertrauenskrise, der diffusen Angst vor Phänomenen wie Globalisierung sind viele vom Nutzen der Kontrolle überzeugt. Schon Dostojewski beschrieb im Großinquisitor, wie die Mehrheit ein vermeintlich bequemes Leben in der Sicherheit eines Überwachungssystems der Last freier Entscheidungen vorzieht. Also weniger Freiheit, dafür garantierte Sicherheit, der Rückzug in die Behaglichkeit eines nun digital vernetzten Biedermeier? „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten“, stammt aus dem Programm totalitärer Systeme: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das bedrohliche Gefühl, der Staat schaut „ins ausgelagerte Gehirn“, auf die Computerfestplatte, nimmt allerdings zu.

Der Autorenblick in die Zukunft ist beklemmend. Selbst der innerste Rückzugsraum der Menschen – ihre Gedanken – könnte künftig mittels Hirnscan geknackt werden. Die Liste möglicher Gegenstrategien am Schluss des Buches fällt etwas schmal aus, konzentriert sich auf – teilweise eher unrealistische – Tipps: Verzicht auf Kundenkarten, vertrauliche Telefongespräche, die Teilnahme an Internet-Foren wie Facebook. Auch eine Klärung, wie der Staat Chancengleichheit gegenüber technisch hochgerüsteten cyberkriminellen bis terroristischen Organisationen sichern kann, fehlt: Kernpunkte einer unerlässlichen Datenschutzpolitik sind Reste eines offenbar der Kürzung anheim gefallenen Kapitels.

Das Rad lässt sich kaum zurückdrehen. Kontrolleiferer heizen Angst vor Kriminalität und Terror an, Datenschutz-Desperados die Furcht vor den Überwachern. Angst ist manchmal ein guter Diener, doch stets ein schrecklicher Herrscher. Die informationstechnologische Zukunft sollten mündige Bürger mitentscheiden, nicht nur Politiker und Experten. Profund recherchiert, bietet das vorgelegte Buch dem technischen Laien das nötige Wissen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2008)

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