Am Tag von 9/11 im Koma

Jenseits von Kantinen-Anekdoten: John Griesemers „Herzschlag“ führt uns mit der fiktiven Biografie eines US-Mimen mitten in die stürmische Entwicklung des Theaters in den vergangenen 50 Jahren.

Ein schier unerschöpflicher Ziehbrunnen von Geschichten ist das Theater, eine Zisterne voll vergangenheitsseliger Reminiszenzen. Kaum sitzen irgendwo zwei Theaterleute zusammen, werden bald eimerweise Erinnerungen hochgezogen. Das Bühnenleben erscheint dann als stets verfügbare Wasserstelle erfrischender Episoden und belebender Anekdoten.

Die Geschichte indes, die der amerikanische Autor und Darsteller John Griesemer in seinem neuesten Roman „Herzschlag“ erzählt, umfasst beinahe ein ganzes Schauspielerleben. Eindrucksvoll wird darin Größe wie Gefährdung des Berufsstands nachgezeichnet. Dabei folgt der Text in Aufbau und Entwicklung dem schlanken Spannungsbogen eines analytischen Dramas: Gegenwart plus Rückblenden, eingefasst in eine sinnfällige Schachteldramaturgie.

Der Schauspieler Noah Pingree spielt in diesem Drama die vielschichtig angelegte Hauptrolle. Als längst erwachsener Einzelkämpfer auf der (kleinsten) Bühne des Lincoln Centre hat er Anfang September 2001 kurz vor seinem Monologauftritt einen Schlaganfall erlitten. In der mühsamen, sprachgehemmten Rekonvaleszenz (und in der quälenden Ungewissheit, je wieder auftreten zu können) erinnert er sich, nicht zuletzt zur Selbstvergewisserung, an sein bisheriges umtriebiges Theaterleben.

Das begann bereits mit elf Jahren: Der Halbwaise war durch den Beruf seiner Mutter in den Bann einer renommierten Schauspielschule geraten, die ihn nie mehr losließ. Das von der fürsorglichen Talenteschmiedin Dorthea Holtz resolut geführte Institut ist unverkennbar dem Modell der berühmten New Yorker Actor's Studios von Stella Adler, Lee Strasberg oder Sanford Meisner nachgebildet: Dort wurde einer Schülerelite jenes Natürlichkeitsideal von Konstantin Stanislawskis Schauspiellehre vermittelt, das die Darstellungskunst des 20.Jahrhunderts revolutioniert hat.

Mit den offenen Augen (und Ohren) des ebenso naseweisen wie entdeckungssüchtigen jungen Noah verfolgen wir die steilen Auf- und Abschwünge, die ein so hochempfindliches Psychoaggregat, wie es eine Schauspielakademie darstellt, in steter Bewegung halten: Theaterpädagogik – wie auchdas Theatermanagement – bringt ja kaum weniger Gefahren mit sich als das zielsichere Pilotieren eines Passagierflugzeugs mit einer Fracht kollektiver Nervenzusammenbrüche im Rücken.

So auch für Dorothea Holtz, deren einfühlsame Seelenkunde wir im Verlauf der Lektüre ebenso zu schätzen lernen wie ihre zupackende Streitschlichtung. Für den vaterlosen Jungen Noah indes bedeutete die bunt zusammengewürfelte, ständig der angewandten Menschenkenntnis bedürftige Schulgemeinschaft die lebensentscheidende Orientierungshilfe. Erst heimlich und versteckt, dann ganz offiziell als Novize und später als Regieassistent der Akademieleiterin wird Noah in die Techniken und Tricks der Schauspielkunst eingeweiht. Dafür hat der Autor seinem Noah eine stets wache Auffassungsgabe mitgegeben, die den Halbwüchsigen auch die tragische Dimension einer kaum verhüllten Dreiecksbeziehung zwischen seiner Mutter, deren darstellerisch begabter, aber haltloser Schwester und einem jungen Schauspieler, einem Marlon-Brando-Typ namens Ike Devoe, begreifen lässt.

Dieser Ike, ein Partylöwe und Bettentiger, erscheint als der unbestrittene Star in Dorothea Holtz' Meisterklasse: Ein dynamischer Kraftbolzen, „dem man auch dann gern zusah, wenn er nicht spielte“. Kein Wunder, dass der Junge ihn sich zum Vorbild nimmt, zumal der ihm fürsorglich zugeneigte Ike auch einen Ersatz für Noahs Vater und Bruder abzugeben hat, die einst vor den Augen des Knaben bei einem Blitzschlag ums Leben kamen. Die Streifzüge der beiden entlang den New Yorker Theatermeilen wie auch die Probeläufe in der Akademie enthalten viel Anschauungsmaterial zur US-Bühnenkunst der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Da läuft dann mit einem Mal die halbvergessene Parade der damaligen US-Theaterhits wieder ab: John Steinbecks „Of Mice and Men“, „Our Little Town“ von Thornton Wilder, Clifford Odets „Awake and Sing“ (oder das noch tiefer vergessene Boxerstück „Golden Boy“), Eugene O'Neills antik verschlüsselte Psychodramen oder die frühen sozialkritischen Seelenenthüllungen von Tennessee Williams. Da wird freilich auch, über die Zeitgräben hinweg, viel Kenntnisreiches und Kluges zum Schauspielmetier preisgegeben. Und da wird, das ist das Spannendste an Griesemers mit großem Atem erzähltem Roman, die Peripetie in die ernüchternde Wirklichkeit nicht versäumt.

Das Tun-als-ob ist das Geschäft des Theaters. Umso wehrloser sind Schauspieler oftmals gegenüber den Einbrüchen der Tatsachen, eines gewaltsamen Schicksals in ein mit Fiktionen wie mit Schutzwänden abgeschottetes Dasein. So endet denn das überragende Talent von Noahs Tante Stephanie auf entwürdigenden Umwegen in Trunksucht und tragischem Gossentod. So führt der in Hollywood errungene Ruhm den zunehmend versponnenen Ike Devoe letztlich in Verfolgungswahn und Isolation. Und so erkennen wir im Schicksal des Protagonisten Noah, dem der Schlaganfall im Wortsinn die Sprache verschlagen hat, das kühn angelegte Epochengleichnis des Autors: Indem der marode Spitalspatient den 11.September 2001 in New York buchstäblich im Koma verbracht hat, fehlt ihm zunächst das Bewusstsein für die Erschütterung Amerikas durch den New Yorker Terroranschlag.

Indes, der nachgeholte Augenschein von dessen verheerender Wirkung auf das Stadtbild wie auf die Gemütslage der gedemütigten Menschen weckt in dem Außenseiter Noah ein unbändiges Mitgefühl für die Gemeinschaft. Denn dieser Außenseiter ist dank Griesemers Erzählkunst zugleich Exponent seiner Generation, die in den Fünfzigerjahren mit hochfliegenden Plänen in die Zukunft gezogen und in den Neunzigern hart auf dem Boden des amerikanischen Niedergangs aufgeschlagen ist.

Nicht nur die Nachwelt flicht den Mimen zumeist keine Kränze. Auch die Mitwelt vergisst die ganz der Gegenwart zugewandten Leistungen der Schauspielkunst oft allzu rasch. Erzählkunststücke wie Griesemers magisch erhelltes New Yorker Theaterpanorama stemmen sich erfolgreich, mit aller Macht der Geschichtenbeschwörung, gegen das Vergessen. Und stimmen nachdenklich im Blick auf die Zukunft, nicht nur die der Bühnenkunst. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2009)

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