Apokalypse Gegenwart: Was gerade jetzt ist

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Douglas Rushkoff blickt in den Mahlstrom namens Jetzt. Der Sinn wird fortan das Viele, Allzuviele sein, angeliefert über Google Alerts, Facebook, Twitter, Instagram et cetera. „Present Shock“ oder: Eine Apokalypse namens Gegenwart – und warum wir sie vielleicht überleben werden.

Milliarden Jahre nichts, Strahlung, das Geschiebe toter Massen, Galaxienformung. Dann, plötzlich, irgendwo im Wasser, ein erstes Dämmern bewusster Welt, Lichtsinneszellen gebündelt in der Epidermis. Ein Flachauge entsteht, nach weiteren Jahrmillionen das erste Napfauge. Und so formt sich, in epochalen Zeiträumen, als ob nichts geschähe (und doch rast es im Innersten, Kleinsten), das menschliche Bewusstsein, dem eine ganze Welt aufgeht wie Germteig in der Schüssel. Erlebte Zeit beginnt zu fließen, rascher und rascher, Stress flutet ein. Irgendwann ist es mit den ägyptischen Jahrtausenden vorbei, in denen Pharaonen sich pyramidal zur Unsterblichkeit betten ließen. Und schließlich blickt ein Douglas Rushkoff in den Mahlstrom namens Gegenwart, der alles zu verschlingen droht.

„Present Shock“ heißt Rushkoffs neues Buch auf Deutsch – eine modische Attitüde, die dem Rezensenten (mir) missfällt. Warum darf es in der Übersetzung nicht „Gegenwartsschock“ heißen? Der Untertitel gibt sich dafür umso didaktischer: „Wenn alles jetzt passiert“. Der vife Zeitgenosse weiß, worum es geht. Wir leben im digitalen Zeitalter unter hohem und höchstem Beschleunigungsdruck. Das muss man nicht erst extra betonen, das pfeifen die elektronischen Spatzen aus dem Handy, sobald unsere Liebste anruft, deren Nummer wir im Favoritenordner unter „Spatzi“ abgespeichert haben.

Während ich diese Zeilen eifrig in mein Notebook tippe, habe ich im Hintergrund YouTube geöffnet, um mir über Kopfhörer einen Mix aus Lana Del Reys und Katy Perrys neuesten Songs anzuhören, nicht ohne einen Rest meiner Aufmerksamkeit dafür zu verwenden, die rechts unten auf dem Bildschirm in einem sich halb transparent öffnenden Display einlaufenden Mails zu checken. Will ich ein Mail gleich beantworten, klicke ich auf das Lesen-Symbol des Displays, woraufhin mir mein Bildschirm den Posteingang meines Outlooks präsentiert.

Was ich Ihnen, liebe zeitgeplagte Leserin, lieber zeitgeplagter Leser, bisher verschwiegen habe (und jetzt plagiiere ich eine kleine Episode aus Rushkoffs Buch, was aber ebenso gut ist, als ob ich sie mir selbst ausgedacht hätte, denn jede digitale Kopie ist laut Rushkoff ein Original): Ich sitze zwölf Kilometer über dem Meeresspiegel in einer Boeing 777, die, solange es über Land geht, einen WLAN-Zugang besitzt, das heißt, eine Kommunikationsverbindung zum elektronischen Globus unter mir. Kaum erwähnenswert, dass neben meinem Notebook mein Smartphone liegt – hier, bei Singapore Airlines, geht's auch ohne Flugmodus beim Handy, na also! –, um die eingehenden SMS laufend zu checken und, falls erforderlich, retourzusimsen. Leider bricht die Verbindung zusammen, weil ein vor mir sitzendes Nervenbündel glaubt, akkurat jetzt skypen zu müssen, um an einem multikontinentalen Businessmeeting teilzunehmen. Die Folgen sind verheerend, plötzlich streikt mein Outlook, ich habe zu meinem elektronischen Kalender keinen Zugang mehr, um die Vortragsanfragen, die ich in der letzten halben Stunde von diversen Veranstaltern erhalten habe, auf ihre „Machbarkeit“ zu prüfen.

Die absolute Gegenwart

Sollen wir etwa innehalten, uns zurücklehnen und tüchtig entschleunigen? Solche Fragen stellen nur Naivlinge! Nein, wenn etwas weitergehen soll, muss es schneller gehen, damit wir hoffen dürfen, eines in sich rasenden Tages alle Weltereignisse in Echtzeit um uns versammelt zu haben. Das wird dann, von Augenblick zu Augenblick, die absolute Gegenwart sein.

Laut Rushkoff nähern wir uns diesem Tag, unserem postmodernen Existenz-Limes,vehementer, als uns lieb sein mag. Wir spüren den Gegenwartsschock als etwas, was seit Langem begonnen hat, uns sinnstrebige Wesen plattzudrücken. Der Sinn wird fortan das Viele und Allzuviele sein, das gerade jetzt ist. Und weil dieses Viele und Allzuviele, angeliefert über Google Alerts, Facebook, Twitter, Instagram et cetera pp. keine Geschichte hat und keine Zukunft, sondern nur im Moment existiert, hat auch nichts einen Sinn – außer eben den, uns im ewigselben Fluss der Gegenwart zu halten. Alles ist da – oder immer schon aus und vorbei, oder auf und davon, egal. Wie bei allen Zeitdiagnosen dieser Art ist man hin- und hergerissen. Man stimmt einerseits heftig zu: Haben wir uns nicht schon tausendmal darüber beklagt, dass – so ein Rushkoff'scher Merksatz à la Qualtinger – wir zwar nicht mehr wissen, wo es langgeht, dafür aber immer schneller vorankommen?

Andererseits sind wir Gegenwartsnarren,die den zehnminütigen Ausfall unseresHandynetzes am liebsten vor den Menschengerichtshof brächten. Im Übrigen spielen wir mit schillernden Zeitverdrossenheitssätzen gleich Kindern, die mit ihren bunten Murmeln klackernd prahlen. Statt herumzustehen und die Dinge, die sowieso geschehen, einfach geschehen zu lassen, lassen wir sie geschehen, indem wir sie blitzgescheit kommentieren: Der Abgrund, der nach dem Abgrund ruft.

Stimmen die Gegenwartsdiagnosen, die Rushkoff abfeuert, dann haben wir keine Zeit, uns auf die Suche nach unserer verlorenen Zeit zu begeben. Wir sind dann alle in der Gegenwart eingeschlossen wie ein zappelndes Insekt unter dem Glassturz. Doch gerade weil wir uns immer umfassender gezwungen glauben, „präsentisch“ zu leben, wollen wir – menschlich ist eben menschlich– etwas von unserer Vergangenheit retten. Also „posten“ wir bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten, was das Zeug hält. Wir posten für all unsere elektronischen „Freunde“ fortlaufend unsere Familienfeste, Urlaube, Geburten, Todesfälle. Undkeine Trivialität ist uns zu trivial: Erst kürzlich twitterte ein halbwüchsiges It-Girl, dessen Follower in die Millionen gehen, dass es sich nie und nimmer von seinen ausgelatschten Highschool-Sneakers trennen würde: Neverever, *schluchz*.

Cyberpräsentisches Verhalten, so Rushkoffs Diagnose, macht unsere Biografie undurchlässig. Der Interpretationsraum des Erinnerns erstarrt gleichsam digital. Was im Internet liegt, das pickt, und zwar für alle Zeit. Stets können mich die anderen bei meinem abgespeicherten Ego packen, dem einzigen, das wirklich real ist. Und ich kann mich nicht aus dem binären Sumpf – besser gesagt: der digitalen Cloud – meiner präsentischen Vergangenheit ziehen. Der klassische Sumpf war ein Phänomen der analogen Welt: voller Untiefen, Zweideutigkeiten und nebligen Visionen. Binärer Sumpf und digitale Cloud hingegen bestehen aus Bits und Bytes, ihre Archive codieren Nullen und Einser, dazwischen ist kein Platz: Das bist du! Punktum!

Der Erstarrung alles Geschichtlichen entspricht der weltweite Ausbruch erinnerungsloser Gier, die ins Unermessliche wächst. Am bedrohlichsten wirken daher bei Rushkoff jene Passagen, die über das Verhalten superschneller Börsencomputer berichten, deren Algorithmen nur Sekundenbruchteile benötigen, um Milliardenbeträge in Bewegung zu setzen. Daran hängt das Schicksal von Firmenimperien und sogar ganzer Länder. Unter Einsatz der neuesten Big-Data-Technologien werden Finanzwetten abgeschlossen, deren Ausgang das Leben von Millionen Menschen in den Ruin katapultieren kann. Dagegen wirken die Machenschaften der mächtigsten Geheimdienste, die sich, unter Verwendung der jeweils neuesten Cybertechnologien, redlich und unredlich (meistens unredlich) bemühen, die letzten Privatsphärenbiotope auszutrocknen, geradezu hausbacken.

Angesichts der undurchschaubaren und durcheinanderwirbelnden Verhältnisse einer aufs Äußerste verdichteten Gegenwart werden wir – Rushkoffs Terminologie zufolge – zu „Fraktalnoikern“. In jedem Teil des Ganzen, ob in Wirtschaft, Politik, Verwaltung odersonst wo, vermeinen wir, paranoid geworden, immer wieder dasselbe Muster zu erkennen: eine Selbstähnlichkeit, „Fraktal“ genannt. Im Christentum hieß es „Ubique daemon“, überall steckt der Teufel drinnen, und das Ganze war dann erst recht des Teufels. Die säkulare Version ist ein Simplifizierungszwang. Dabei benützen wir ein Hokuspokusvokabular, über die ökonomische Nutzenmaximierung bis zum Schmetterlingseffekt oder gar zur sagenhaften Autopoiesis.

Und während wir nach möglichst einfachen Erklärungen schnappen, drehen wir ein Begriffskaleidoskop, das weniger die Tatsachen als unsere Angst vor ihnen widerspiegelt. Hier muss ich der Rezensentenredlichkeit halber einfügen, dass mir Rushkoff vor allem eines bereitet: ein Lehnstuhlgruselvergnügen. Ich lebe ja in einem Land des Friedens mit einem Bundespräsidenten, dessen unüberbietbare Ausgewogenheit des Urteilens nur durch die Bedachtsamkeit seines Sprechens übertroffen wird. Man schläft, ihm an den Lippen hängend, gern ein. Von Gegenwartsschock keine Rede. Außerdem habe ich eine Familie, darunter zwei reizende Enkeltöchter. Was wäre ich für ein kaltherziger, illoyaler Großvater, wollte ich ernsthaft daran glauben, dass meine kleine Welt dem Untergang entgegenrast? So etwas glaubt man einfach nicht, mögen die Berufsschwarzseher noch so schwarzsehen!

Immerhin: Rushkoff, Jahrgang 1961, ist kein Unbekannter. Der aus New York stammende Autor, Kolumnist und Musiker gehörte in den frühen Neunzehnneunzigern der Cyberpunk-Szene an, die durch pessimistische Zukunftsfantasien einer totalitären, von Computern beherrschten Welt hervortrat. Mittlerweile ist Rushkoff in den Gegenwartskritikeradel aufgestiegen; entsprechend ist sein Blick auf unsere Zeit milder geworden.

Literarisches Untergangspathos

Verständlich zwar, doch auch ein wenig schade. Wenn sich der Leser nämlich im gut gepolsterten Fauteuil mit einem apokalyptischen Szenario vergnügen möchte, will er nicht darüber belehrt werden, dass sich alles halbwegs zum Guten wenden könnte, oder? Das ist weder Fisch noch Fleisch, sondern so, als ob einem die Offenbarung des Johannes augenzwinkernd bedeutete, dass es durchaus keine ausgemachte Sache sei, ob das Jüngste Gericht mit Hagel, Blut und Feuer statt mit Inflationsabgeltung und Arbeitszeitverkürzung über uns hereinbrechen wird. Kurzum, Rushkoffs Untergangspathos wirkt über weite Strecken „literarisch“: O du lieber Augustin, alles ist hin!

Ist der Ex-Cyberpunk etwa selbst Großvater geworden? Vermutlich, denn im letzten Kapitel schleicht sich ein „Fünf vor zwölf“-Optimismus ein, wie ihn bereits Udo Jürgens in einer seiner Ideenschnulzen besungen hat. Zwar lautet die Rushkoff'sche Kapitelüberschrift „Apokalypsie“, was einigermaßen vielversprechend nach dem guten alten Weltuntergang klingt. Doch dann wird uns, sozusagen als Weisheit letzter Schluss, der popelige Rat erteilt, „wir sollten Pläne für ein nachhaltiges Leben schmieden, in denen Zombies oder die Auslöschung des größten Teils der Weltbevölkerung keine Rolle spielen“.

Dem durch so viel Nachhaltigkeitspädagogik gestressten Rezensenten (mir) stößt ein Seufzer auf: Lieber Augustin, hilf! Und geholfen kann uns werden: Verweilen wir, liebe Leserinnen und Leser, ein paar gemütliche Stunden lang bei – sagen wir – einem gänsehauttreibenden Blockbuster von Stephen King. Dort dürfen Zombies, ohne zeitlich gepresst zu sein, die Burn-out-Menschheit zu dem machen, was sie laut Rushkoff ohnehin längst ist: lebendig tot. ■

Douglas Rushkoff

Present Shock

Wenn alles jetzt passiert. Aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann. 288 S., brosch., €24,70 (Orange Press, Freiburg/Breisgau)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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