Tiefer als der Abgrund

Staatenlosigkeit war im 20. Jahrhundert ein Massenschicksal. In ihrem Buch „Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden“ zeigt die Historikerin Hannerlore Burger die Bedeutung staatsbürgerlicher Rechte und die Folgen von deren Verlust für das Leben von Menschen.

Im Juli 1916 trafen der spätere Schriftsteller Manès Sperber und dessen Eltern als Kriegsflüchtlinge auf dem Wiener Nordbahnhof ein. Bis zum Untergang des Habsburgerreiches lebte die aus Galizien stammende Familie in der Haupt- und Residenzstadt mit dem Status gleichberechtigter Staatsbürger. Nach dem Zerfall der Monarchie wurde ihre Situation jedoch prekär: Der Vater, David Mechel Sperber, erwarb bis zum Ende der Ersten Republik kein Heimatrecht in Wien – die Bedingung für die Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Die Sperbers waren nach wie vor in ihrem Herkunftsort, Zabłotow, heimatberechtigt und galten als „polnische Juden“, somit als Ausländer. Für den jungen Manès Sperber war dieser Sachverhalt allerdings von geringer Bedeutung. Er fühlte sich als Kosmopolit, seine Welt war eine übernationale, die der Sozialdemokratie, später der Kommunistischen Partei.

Doch als er im Oktober 1937, unter dem Eindruck des zweiten Moskauer Schauprozesses, in Paris die KP verließ, verlor er damit auch das Gefühl des Aufgehobenseins in einer Gemeinschaft und damit das wichtigste Fundament seiner psychischen Stabilität. Er erlebte die Folgen dieses Schrittes als einen Sturz ins Bodenlose – „tiefer als der Abgrund“. Immer wieder thematisierte er von da an in seinen Werken seine „Heimatlosigkeit“ und beschwor das Thema des ewigen Wanderers, wobei dieses Ahasver-Motiv in Wirklichkeit nur seine beinahe lebenslange Staatenlosigkeit überdeckte.

Manès Sperbers Schicksal ist nur eines der prominenten Beispiele, anhand derer die Historikerin Hannelore Burger in ihrem Buch „Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden“ die Bedeutung staatsbürgerlicher Rechte und vor allem die Folgen von deren Verlust für das Leben von Menschen verdeutlicht. Sie zeigt, dass Staatenlosigkeit im 20.Jahrhundert als Folge des Zerfalls von Imperien – der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs – sowie der durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Vertreibungen ein Massenschicksal gewesen ist.

Mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie im November 1918 hatten Millionen Menschen ihre Staatsbürgerschaft verloren. Grundsätzlich sollte es gemäß Artikel 80 des Staatsvertrags von St.Germain-on-Laye vom 10.September 1919 durch das sogenannte Optionsrecht allen Bürgern der zerfallenen österreichisch-ungarischen Monarchie möglich sein, die Staatsbürgerschaft von einem der Nachfolgestaaten zu erwerben.

Doch Abgeordnete aller Parteien der neuen österreichischen Republik waren sich rasch darin einig, dass die Einbürgerung jüdischer Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina – sogenannter Ostjuden – um jeden Preis verhindert werden sollte. Eine Vollzugsanweisung des Innenministeriums vom 20.August1920 bestimmte, dass die Optanten „nach Rasse und Sprache zur deutschen Mehrheit der Bevölkerung“ gehören sollten.

In der Folge wurden die meisten Gesuche – so sie nicht von sehr prominenten Juden stammten – abgelehnt. Burger sieht darin einen Grund für die vielfach auch in der Gesetzgebung der Zweiten Republik vernachlässigte Tatsache, dass de facto nur rund 85 Prozent der während der NS-Zeit aus Österreich vertriebenen Juden zum Zeitpunkt ihrer Flucht die österreichische Staatsbürgerschaft besessen haben.

In den ersten Kapiteln ihres Buches zeichnet die Autorin akribisch den stufenweisen, von vielen Rückschlägen gekennzeichneten Weg der Einbeziehung der Juden in Heimatrecht – politisches Domizil in einer Gemeinde – und Staatsbürgerschaft nach: vonden josephinischen Reformen über die Erlangung der vollständigen rechtlichen und politischen Gleichstellung durch dasStaatsgrundgesetz 1867 bisin die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – um dann, gleichsam spiegelbildlich, den gegenläufigen Prozess der Entrechtung und Ausbürgerung der österreichischen Juden nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zu beleuchten.

Dieser Ausgrenzungs- und Entrechtungsprozess ist oft beschrieben worden,doch selten wurde in dieser Deutlichkeit und Eindringlichkeit auf die Systematik und die historischen Bezüge aufmerksam gemacht. Burger zeigt, dass sich der Wust an antijüdischen nationalsozialistischen Gesetze und Verordnungen bei genauerer Analyse als geplante und systematische, wie in einem Zeitraffer vorgenommene Umkehrung der „Judenemanzipation“ mit ihren einzelnen Bausteinen lesen lässt.

Zu diesen Grundpfeilern der Gleichberechtigung hatten die Öffnung von Schulen und Hochschulen, die Einbeziehung in immer weitere Berufsfelder und in die Militärpflicht ebenso gezählt wie die Gewerbefreiheit, die Grundbesitzfähigkeit sowie die Möglichkeit der Eheschließung mit christlichen Partnern. Alle diese hart erkämpften Errungenschaften wurden durch die antijüdischen NS-Gesetze – vor allem durch die in Deutschland 1935 verkündeten und am 20.Mai 1938 auch in Österreich eingeführten Nürnberger Gesetze – in Einzelschritten zurückgenommen. Die Verfasser und Kommentatoren des Stammgesetzes und der 13 darauf bezogenen Verordnungen waren historisch gebildete Fachleute, die zur Elite der deutschen Justiz zählten.

Durch NS-Gesetzewurde unter anderem das Ämterverbot für Juden,das in Österreich bis in die Mitte des 19.Jahrhunderts bestanden hatte, wieder eingeführt, ebenso die seit dem Hochmittelalter geltende Kennzeichnungspflicht, die durch ein Toleranzedikt im Jahr 1782 ausdrücklich aufgehoben worden war. Sie kehrte nun etwa in Form der aufgezwungenen Zusatznamen Sara und Israel wieder sowie, ab 15.September 1941, in Gestalt des gelben Sterns.

Die Ausbürgerung der österreichischen Juden während der NS-Herrschaft war ein überaus komplexer, in mehreren Schüben erfolgender Prozess. Zunächst kam es ab Mitte 1939 zu Ausbürgerungen wegen behaupteter Verletzung der Treuepflicht „gegen Reich und Volk“. Betroffen waren zahlreiche Künstler und Intellektuelle wieetwa Stefan Zweig, der bereits seit 1934 im englischen Exil lebte. „Und ich zögere nicht zu bekennen, dass seit dem Tage, da ich mit eigentlich fremden Papieren oder Pässen leben musste, ich mich nie mehr ganz als mit mir zusammengehörig empfand“, schrieb er in seiner 1944 verfassten autobiografischen Studie „Die Welt von Gestern“.

Das Gefühl, „mit offenen wachen Augen im Leeren zu taumeln und zu wissen, dass man überall, wo man Fuß gefasst hat, zurückgestoßen werden kann“, verließ ihn zeitlebens nicht mehr. Die große Mehrheit der vormals österreichischen Juden, die mit dem Anschluss Angehörige des Deutschen Reichs geworden waren, verlor ihre Staatsangehörigkeit aber erst mit der 11.Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.November1941. Betroffen waren nicht nur jene, die bereits ins Ausland geflüchtet waren, sondern – mit dem Überschreiten der Reichsgrenzen – auch alle Deportierten. Die 11.Verordnung ermöglichte den sofortigen Zugriff des Staates auf das Vermögen und vollendete damit die vorangegangenen Raubzüge.

Während Historiker in den vergangenen Jahren ihr Interesse vor allem auf den Vermögensentzug fokussiert haben, steht für Burger ein anderer Aspekt im Zentrum: die Erkenntnis, dass die 11.Verordnung „den Endpunkt des langen und mit großer juridischer Finesse betriebenen Prozesses der Entrechtung und Depersonalisierung der Juden“ darstellte. Am Ende stand ein seiner Menschenwürde beraubtes, unter keinen staatlichen Schutz mehr fallendes Wesen, das „nur mehr als ,Ungeziefer‘“ wahrgenommen werden sollte und „das man straflos vernichten durfte“. Denn, so betont Burger, „bei ihrer Ermordung durften Juden keine Deutschen mehr sein“.

Mitte Oktober 1941 setzten die Massendeportationen von Juden aus den Reichsgebieten ein. Am 18.Oktober erfolgte das strikte Verbot der jüdischen Auswanderung. Anfang November wurde im Vernichtungslager Belzec der Probebetrieb der ersten Gaskammern aufgenommen. Am 25.November wurde die 11.Verordnung kundgemacht. Sie war, so Burger, „ein Mordinstrument, und sie steht exakt am Wendepunkt von einer Politik der Vertreibung zu einer Politik der Vernichtung der Juden. Sie steht im Horizont der ,Endlösung‘ – und sie bereitet diese vor.“

Obwohl bereits im Mai 1945 die Wiederherstellung der österreichischen Staatsbürgerschaft beschlossen wurde und es in den darauffolgenden Jahrzehnten zu mehrfachen Reparaturen des Staatsbürgerschaftsgesetzes kam, erwies sich nach Kriegsende das Bemühen um Wiedereinbürgerung für viele Vertriebene als dornenreiches und mitunter jahrzehntewährendes Unterfangen. Burger legt in ihrem Buch offen, wie sehr diese Verfahren auf Tiefenstrukturen der österreichischen Geschichte verweisen, zurückreichend bis weit in die Zeit der Monarchie.

Der an der Universität Wien lehrenden Hannelore Burger ist es auf souveräne Weise gelungen, eine schwierige, auf den ersten Blick trocken erscheinende Thematik auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. In ihren semantischen Nachbemerkungen erinnert sie daran, dass Staatszugehörigkeit, die immer im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion gesehen werden muss, etwas historisch Bedingtes und Veränderliches ist. Über das eigentliche Thema hinausgehend, stellt sie fest, dass heute, beispielsweise in der Europäischen Union, das anden Nationalstaat gebundene Staatsbürgerschaftsmodell an Bedeutung zu verlieren scheint, während gleichzeitig neue Grenzen sich auftun und bestehende Gräben sich vertiefen: jene zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern, Inländern und sogenannten Fremden.

Bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Intellektuelle wie Albert Einstein oder Bertrand Russell für das Millionenheer der Staatenlosen eine Weltbürgerschaft anstelle nationalstaatlicher Zugehörigkeiten gefordert. Gegenwärtig werden, wie Hannelore Burger darlegt, radikale neue Denkansätze formuliert, die, angesichts ökologischer Desaster, für eine Welt(erd)bürgerschaft eintreten, die auch Tiere und Pflanzen miteinbeziehen würde. Burger verweist demgegenüber aber auch auf die Position der Philosophin Hannah Arendt, die immer auf der fundamentalen Bedeutung von Staatsbürgerschaft bestanden hat: Mit dieser verliere der Mensch, so war Arendt überzeugt, weit mehr als einen bloßen Status. Er verliere den Standort in der Welt, „durch den allein er überhaupt Rechte haben kann“. ■

Hannerlore Burger

Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden

Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Reihe Studien zu Politik und Verwaltung, Bd 108. 274 S., 22 SW-Abb., geb., €36 (Böhlau Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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