Das Krokodil in uns

Altay ist mit Leyla verheiratet. Die aber schläft mit Jonoun. Altay schläft mit Männern. Das nimmt einen nicht unwesentlichen Teil von Olga Grjasnowas Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ ein. Rund um die unmögliche Ménage-à-trois erfährt man etwas über Sex und Homosexualität zur Sowjetzeit und danach.

Der Roman beginnt in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan, wo auch die Autorin vor 30 Jahren geboren wurde. Der Schauplatz ändert sich nach sechseinhalb Seiten. Wir befinden uns jetzt im Berliner Stadtteil Kreuzberg, in einer Bar, versteht sich, und lernen die drei Protagonisten des Romans kennen: Leyla, die junge Frau aus Aserbaidschan, ihren Mann Altay und die Israelin Jonoun.

Leyla ist eine Ballerina. Das Ballett steckt ihr im Körper, bestimmt ihr Denken, auch, als sie ihm entsagen muss. „Leyla wurde dazu erzogen, mehr als andere zu leisten. Der Wille zum Funktionieren wurde allmählich zum Fundament ihrer Persönlichkeit.“ In Deutschland versucht sie, die in Moskau begonnene Karriere fortzusetzen.

Jonoun hat als sehr junge Kunststudentin ihren Professor geheiratet. Nach der Scheidung entdeckte sie für sich das promiske Leben der Boheme. Sie macht Performances, „die von vielen als nuttig, von ihr selbst jedoch als feministisch bezeichnet wurden“.

Altay ist Arzt. Er ist mit Leyla verheiratet. Aber diese schläft mit Jonoun. Altay schläft mit Männern. Das nimmt einen nicht unwesentlichen Teil des Romans ein. Von einer befreundeten Urologin lässt er sich Bilder von besonders schönen Schwänzen schicken. Nach dem Selbstmord seines Liebhabers Sergej, den er im ersten Studienjahr getroffen hat, hat er sich geschworen, nie wieder jemanden so zu lieben wie Sergej.

Drum herum erfährt man einiges über Russland nach dem Ende der Sowjetunion, über Sex und Homosexualität zur Sowjetzeit und danach. Man erfährt auch, dass Alla Pugatschowas Lied „Eine Million roter Rosen“ von 1982 zur Schattenhymne der Sowjetunion geworden ist und dass es in russischen Krankenhäusern an allem gemangelt hat, „insbesondere, wenn der Patient es sich nicht leisten konnte, Bestechungsgelder zu zahlen“. Die Homophobie ist der Grund dafür, dass Altay und Leyla Russland verlassen haben und nach Berlin gezogen sind.

In Berlin schließen sich Homosexualität und Menschsein nicht aus. Sagt die Erzählerin. „Die einzigen Voraussetzungen waren die Zugehörigkeit zur weißen Rasse, das richtige Einkommen und die Bereitschaft, sich in eine vorgegebene gesellschaftliche Rolle einzufügen.“ Das klingt ziemlich sarkastisch. Aber Altay und Leyla scheinen damit kein Problem zu haben. Sie sind von den Einschränkungen nicht betroffen.

Leyla, Altay und Jonoun leben eine Zeit lang zusammen in einer Wohnung, aber sie sind zu verschieden, als dass das auf die Dauer gut gehen könnte. „Jonoun und Altay stritten sich unentwegt, und Leyla stand dazwischen. Sie stritten im Treppenhaus darüber, wer vergessen hatte, den Müll hinauszubringen, sie stritten beim Abendessen darüber, welchen Wein sie entkorken sollten, im Schlafzimmer stritten sie darüber, dass sie ihnen nicht genügend Zeit widmete.“ So weit, so normal. Eine Ménage-à-trois versetzt den Leser heute ja kaum noch in Beunruhigung.

An einer Stelle des zweiten Romans von Olga Grjasnowa nach ihrem erfolgreichen Debüt mit „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ kommt, ohne erkennbaren Zusammenhang, ein namenloser, immer kursiv gedruckter „Österreicher“ vor. Er hat ein Techtelmechtel mit Jonoun. Als er erfährt, dass sie Jüdin ist, erwähnt er, dass einer seiner Vorfahren Kriegsverbrecher gewesen sei. Franz Murer, der „Schlächter von Vilnius“, der 1963 von einem österreichischen Gericht freigesprochen wurde, war sein Großonkel. Nichts weiter. Eine Momentaufnahme. Franz Murers Leben wäre durchaus Stoff für einen Roman. In gegebenem Kontext ist er verspielt. Ein Wirklichkeitspartikel neben anderen, so schnell vergessen, wie es aufgetaucht ist.

Der zweite Teil des Romans führt Leyla, Altay und Jonoun nach Baku und von dort kurz nach Georgien und Armenien. Jetzt löst sich auch das Rätsel, das das nullte, dem ersten Teil vorangestellte Kapitel stellt – ein Verzögerungstrick, der nicht eben neu ist. (Lernt man das am Leipziger Literaturinstitut, an dem Grjasnowa studiert hat?) Wir begegnen der Jeunesse dorée, der wohlhabenden Bevölkerungsschicht Aserbaidschans. „Alles in allem war der Unterschied zur sowjetischen Politikonografie nicht groß.“

In diesem zweiten, dem aserbaidschanischen Teil lässt Grjasnowa ihre Figuren lange Erklärungen abgeben. Offenbar hat sie das (wohl berechtigte) Gefühl, ein Terrain zu betreten, das dem deutschen Leser unbekannt ist, und ihn informieren zu müssen. Der Roman wird didaktisch, die Belehrung verdrängt die Handlung. Da schwindet auch die Sprachkraft des ersten Teils. Das lautet dann, beispielsweise, so: „Nach altem Brauch wurde gegen 22Uhr Plow gereicht, das Königsgericht der aserbaidschanischen Küche.“ (Wie klänge das in eine weniger exotische Gegend übertragen? „Nach altem Brauch wurde gegen 22 Uhr Wiener Schnitzel gereicht, das Königsgericht der österreichischen Küche.“)

Die Kapiteleinteilung des Romans ist apart. Im ersten Teil wird von 29 zu eins herunter-, im etwas kürzeren zweiten Teil von eins bis 29 hinaufgezählt. Mehr als ein Manierismus ist das nicht. Es erfüllt keine Funktion. Denn die Chronologie wird auch im ersten Teil zwar durchbrochen, aber nicht, wie die Zählung suggeriert, umgekehrt.

Grjasnowas Sprache ist elaboriert, stilistisch ehrgeizig, bedacht in der Wortwahl. Sie spart nicht mit Attributen, bemüht sich um Genauigkeit, liebt das Detail – im Film entspräche ihm die Großaufnahme. Gelegentlich findet sie plastische, unkonventionelle Bilder. Manchmal misslingen sie auch: „Am späten Nachmittag strebten die Menschen in die Innenstadt wie Spermien zu Eizellen.“ Und doch fragt man sich am Ende, was die Autorin eigentlich mitteilen wollte. Denn dass es ihr mehr um Mitteilung als um Sprachkunst geht, steht außer Zweifel. Anders ist ein Satz wie der folgende nicht zu erklären: „Altays Eltern wohnten in einem zwanzigstöckigen Neubau, der kurz vor der Weltwirtschaftskrise erbaut worden war.“

„Wieso endet jede Verliebtheit in maßloser Enttäuschung?“, fragt Altay Leyla auf der letzten Seite des Romans. Ihre Antwort: „Wir träumten von einer unmöglichen Liebesbeziehung. Alle drei.“ Nun ja. Und für diese Erkenntnis muss man nach Baku reisen?

Der Hanser Verlag hat sich stets in besonderer Weise um die grafische Gestaltung seiner Buchumschläge gekümmert. Diesmal hat er eine exquisite Quelle gewählt: den Codex Seraphinianus des Italieners Luigi Serafini aus den späten Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Da sieht man sechsmal auf einem schlichten Bett mit einer Matratze ein kopulierendes Paar, das sich nach und nach in ein Krokodil verwandelt. Ist dies das Bild von der Enttäuschung, in der jede Verliebtheit endet? ■


Olga Grjasnowa liest am 11.November,
19 Uhr, im Wiener Literaturhaus, Seidengasse 13, aus ihrem Roman.

Olga Grjasnowa

Die juristische Unschärfe einer Ehe

Roman. 270S., geb., €20,50 (Hanser
Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)

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