Schatten und Schemen aus dem Jenseits

Nach Art von Sagen: Benjamin Leberts romantisch auffrisierte Liebesgeschichte.

Geisterstunde. Die Zeit der Wiedergänger und armen Seelen, der unergründlichen Schatten und Schemen aus dem Reich des Jenseits. Unheimliches zwischen Himmel und Erde: Kann man damit heute noch Literatur machen? Benjamin Lebert, als Jungautor höchst erfolgreich und seit Jahren einer der wendigsten Akrobaten im deutschen Literaturzirkus, packt es an. Sein Roman „Mitternachtsweg“ greift zurück auf die Stoffe von Volksmärchen und Sage und spielt dabei mit dem Irrationalen und all jenen sonderbaren Begebenheiten, die schnell belächelt und mit E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck in eine Schublade gesteckt werden.

Das Buch beginnt recht holprig. Da gibt es den Journalisten, längst pensioniert, aber immer noch auf der Suche nach skurrilen Vorkommnissen. Ihm wird ein Manuskript eines jungen Mannes zugespielt, den er nur flüchtig kennt. Die Erlebnisse, die ihm dieser zur Kenntnis bringt, springen ihn geradezu an. Bald schon steckt man mit Johannes Kielland, wie der Student heißt, in einem Drama, dessen Muster man nur aus lange zurückliegenden Zeiten zu kennen meint.

Benjamin Lebert schiebt Binnen- und Rahmenhandlung ineinander und setzt ein Verwirrspiel in Gang, dem man sich lange widersetzt. Kann das denn alles wahr sein? Was soll man mit einer so romantisch auffrisierten Liebesgeschichte anfangen? Dieser Johannes, naiv, unerfahren und dem Rätselhaften zugetan, sieht sich eines Tages einer ausnehmend schönen Frau gegenüber, die ihn so hartnäckig anbaggert, dass er nachgibt und sich mit der rätselhaften Helma Brandt verabredet.

Mysteriöses Verschwinden

Wenig später liegt er mit ihr im Bett, ja mehr noch: Er hat plötzlich das Gefühl, fremdgesteuert und damit Teil eines Planes zu werden, den er nicht durchschaut. Helma Brandt hat ihren Herzensmann verloren, wie sie behauptet. Er sei auf mysteriöse Weise verschwunden. Johannes beginnt zu recherchieren und stößt auf eine Helma Brandt, die im Sommer 1939 vor Sylt ertrunken ist. War es ein Unfall, hatte ihr Geliebter sie nicht fest genug an der Hand gehalten und sie deshalb ans Meer verloren?

Wer an der See aufgewachsen ist, kennt die Erzählungen von Ertrunkenen, die nochmals an Land zurückkehren,weil sie erlöst werden müssen oder sich rächen wollen, um sich so den Weg ins Totenreich zu bahnen. Bei diesen Sagen und Mythen setzt Leberts Roman an. Er führt vor, wie sehr die Vergangenheit in unser aller Leben ragt und wie schwer wir freikommen aus der Umklammerung von Ereignissen, die nicht abgeschlossen sind, so weit sie auch zurückliegen mögen.

Als das Buch dann auf ein furioses Finale zuläuft und die Hauptfiguren wie durch Zauberhand allesamt in einem Boot sitzen, fragt man sich ein weiteres Mal, ob man wirklich gutheißen soll, was einem der Autor da auftischt?

Zu jenem Zeitpunkt, da sich die Frage stellt, ist es ohnehin schon zu spät. Da sind wir in jenem Netz gefangen, das Lebert ausgelegt hat. Die Geschichte istspannend gebaut und setzt die kritische Distanz fast vollends außer Kraft. Also lässt man sich fallen und taucht schließlich an einem Uferstück von Sylt wieder aus dem Wasser, reibt sich die Augen und staunt: Was ist mir da nur passiert? ■

Benjamin Lebert

Mitternachtsweg

Roman. 240 S., geb., € 18,50
(Hoffmann und Campe Verlag,
Hamburg)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)

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