All das Schöne, das unerwartet geschieht

„Herkunft“: In einer Art Poetik des Ungefähren erinnert sich Botho Strauß seines „unzeitgemäßen“ Vaters. Eine mitreißende Nach-Schrift, ohne Schwarz-Weiß.

Nachkriegszeit in Bad Ems. Die Stadt an der Lahn, die früher einmal prominente Kurgäste beherbergt hat, wie Goethe, Gogol, Dostojewski oder Richard Wagner, von gekrönten Häuptern ganz zu schweigen, hat der aus dem Osten geflüchteten, zugewanderten Familie Strauß in dieser Ära nicht mehr allzu viel zu bieten. Der Vater des Autors, Jahrgang 1890, inzwischen über 60, von seiner Ausbildung her Chemiker und Apotheker, ein Bürger, wie er im Buch steht (sein Lieblingsautor ist Thomas Mann), findet keinen Anschluss mehr, während der Sohn, in vielem sein Gegenüber, zeitweise ein Geck, einen Anschluss gar nicht mehr sucht und noch weniger vermisst. Beide haben sich von den Menschen abgesondert, haben sie doch erfahren, dass „es eigentlich keine erfüllte Erwartung gibt“.

Der Sohn, „aufgewachsen mit Grimms Märchen und Elvis Presley, Karl May und General Eisenhower, Wagner und James Dean“, später auch mit Grillparzer, Brecht, Cesare Pavese und Paul Celan, orientiert sich ganz konsequent stärker an romantischen als an realistischen Traditionssträngen, nüchtern stellt er fest: „Es gibt die enttäuschte Erwartung und all das Schöne, das unerwartet geschieht.“ So begegnet ihm auch (in diesem Sinn) Unerwartetes imRückblick auf das Leben der Eltern wie auf jene frühen Prägungen, die ihm im Akt des Aufschreibens mehr und mehr bewusst werden.

Das Buch gehört in erster Linie dem Vater des Erzählers. Einem Mann, der zeitlebens in der Welt von gestern geblieben ist, vor allem auch, weil ihm in der Nachkriegsphase jeder berufliche Erfolg versagt geblieben ist. Einem Mann „nach altem Ibsen-Format“. Søren Kierkegaard und Franz Kafka haben mit solchen Vätern abgerechnet, später dann auch (in Österreich) Alois Brandstetter, Peter Henisch, Franz Innerhofer, Julian Schutting und Josef Winkler; es würde nicht schwerfallen, die Reihe der Beispiele zu ergänzen.

„Unzeitgemäß war er und war es mit Kraft und Grimm.“ Auch Botho Strauß ist weit davon entfernt, die Erinnerung an den Vater zu verbrämen. Immer wieder bemüht er sich vielmehr, Abstand von diesem Mann zu halten, „der durchaus nicht an mich glaubte, sondern seine spätere Lebenszeit mit der fixen Idee verengte und belastete, mich bis ans Ende meiner Tage versorgt zu wissen, der mich also mit all seiner Liebe hilflos machen wollte“; aber zugleich versucht er trotz allem unentwegt, die Perspektive des Vaters ernst zu nehmen und sich an die „Augen der Herkunft“ zu erinnern: Sie zeigen ihm nämlich, wie nah ihm doch der Vater gewesen ist, und sie zeigen ihm „Bilder, die in unserem Leben ein eigenes Wachstum haben“, alles andere also als fertige Bilder. Die (wohl erwartete) rigorose Abrechnung bleibt denn auch endlich aus. An ihre Stelle tritt eine hin- und mitreißende Nachschrift, die ihresgleichen sucht, indem sie mit der immer weiter ausgreifenden Erinnerung an ein Zuhause die permanente Reflexion über den Akt der Erinnerung fest verknüpft.

Die Faszination, die von dieser Schrift ausgeht, ist der Poetik des Ungefähren zu verdanken, der Botho Strauß sich seit Jahrzehnten schon verschrieben hat; in diesem Fall einer Erzählstrategie, die nie auflistet, was der Ich-Erzähler alles weiß, sondern mit der denkbar größten Akribie, ohne einen festen Boden bereits erreicht zu haben, nach all dem fahndet, was „Herkunft“ (für ihn) bedeutet.

Die Mutter des Erzählers, liebevoll porträtiert, kommt nur am Rand ins Bild. Gleichwohl, „Herkunft“ und „Wunschloses Unglück“gehören nebeneinander ins Bücherregal: Wie Peter Handkes Erzählung, die den Anspruch erhebt, die dargestellte Geschichte der Mutter, den Fall nicht „mit einer religiösen, individualpsychologischen oder soziologischen Traumdeutungstabelle“, sondern ganz anders, eigentlich gar nicht aufzulösen, vielmehr jedem schlichten Erklärungsmodell Satz für Satz zu widersprechen, so bietet auch das neue Buch von Botho Strauß ein fulminant konstruiertes Gegenstück zu jenenVaterbüchern und sogenannten Antiheimatromanen, die den vertrauten Schwarz-Weiß-Malereien der Altvorderen nichts anderes als Weiß-Schwarz-Malereien entgegengehalten haben. ■

Botho Strauß

Herkunft

96 S., geb., € 15,40 (Hanser Verlag,
München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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