Der Stoff, aus dem das Kapital ist

Keine Ware verkörpert die Entwicklung und Wirkungsweise des Kapitalismus so sehr wie Baumwolle. In „King Cotton“ holt der Historiker Sven Beckert kulturgeschichtlich weit aus, um den wirtschaftlichen Vorsprung Europas im Zuge der industriellen Revolution zu erklären.

King Cotton“ ist Teil der Debatte, die um die Great Divergence geführt wird, den wirtschaftlichen Vorsprung, den Westeuropa gegenüber anderen Weltregionen im Zuge der industriellen Revolution errungen hat. Und es thematisiert das Wesen des Kapitalismus. Das Buch zeigt auf, dass diese Fragen nur im weltweiten Zusammenspiel der Phänomene erfassbar sind. Obwohl es aus einer wissenschaftlichen Fragestellung hervorgeht, ist es kein theoretisches Werk, vielmehr besticht es durch anschauliche Darstellung und gute Verständlichkeit. Die große Frage ist in eine Erzählung verpackt, die auf jahrelangen Studien des Autors beruht, der in Harvard Geschichte lehrt.

Die Erzählung kann auch deshalb klar sein, weil sie eng an ein Produkt angelehnt ist: Baumwolle, deren Anbau und Verarbeitung der Autor über den Globus verfolgt. Es gibt andere Studien, die koloniale Rohstoffe wie Zucker, Kaffee oder Tee auf ihren verschlungenen Wegen zum Konsumenten verfolgen. Keine dieser Waren verkörpert jedoch die Entwicklung und Wirkungsweise des Kapitalismus so wie Baumwolle.

Sven Beckert holt kulturgeschichtlich weit aus. Europa spielt dabei praktisch keine Rolle, Asien steht im Zentrum der Erzeugung und der Fernhandelsnetze. Erst mit der maritimen Expansion nach Asien seit 1500 können sich europäische Händler mit Rückendeckung ihrer Staaten in diesen Handel einschalten und schließlich zur weltweiten Handelsdrehscheibe werden, zuerst für asiatische Stoffe, die nach der Errichtung mechanischer Spinnereien und Webereien ab 1780 durch solche „made in England“ ersetzt werden. Der mit dem Fabrikswesen entstehende Industriekapitalismus basiert nicht nur auf der Nachahmung und Verdrängung asiatischer Importwaren, sondern auf einer zweiten Quelle der Aneignung: der kolonialen Eroberung und Ausbeutung der Amerikas durch Landraub und Zwangsarbeit. Beckert bezeichnet die Enteignung der Ureinwohner und die Rekrutierung von Sklaven für die Plantagen als Kriegskapitalismus.

Im Zuge des Baumwollhungers der englischen Fabriken erlebte der Kriegskapitalismus ab 1780 eine Blüte. Er dehnte sich nun auch auf Regionen aus, in denen bisher keineBaumwolle für den Weltmarkt produziert worden war, allen voran im US-Süden, wo die Sklavenplantage nach der sukzessiven Vertreibung der indigenen Bevölkerung immer weiter vorangetrieben wurde. Die Lieferungen der Südstaaten stellten die Grundlage für die Fabriksindustrie dar, die sich bald auch auf dem europäischen Kontinent sowie in Neuengland ausbreitete. „England würde stürzen und die gesamte zivilisierte Welt mit sich reißen“, wenn das System der Sklaverei bedroht werde, meinte ein Baumwollpflanzer aus South Carolina.

Mit dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861–1865 brach der Zufluss von Baumwolle schlagartig ein. Die Folge war die fieberhafte Suche nach alternativen Bezugsquellen. Diese erschloss man, indem nun auch in Indien, Zentralasien, Anatolien, Ägypten, Algerien, Westafrika, Brasilien und Mexiko Menschen aus ihrer bäuerlichen Existenz, die meist auch die Erzeugung von Textilien für den Eigenbedarf und lokale Märkte einschloss, herauskatapultiert und mithilfe von Recht, Gewalt und Schuldenfalle zum Anbau von Baumwolle gezwungen wurden.

Der britische Baumwollbevollmächtigte für einen Bezirk mit florierender Baumwollverarbeitung im indischen Westen erklärte 1869: „Die Hoffnung ist nicht übertrieben, dass mit einem Eisenbahnzubringer in diese Gegend europäische Textilien importiert werden könnten, um die einheimischen Stoffe zu unterbieten. Infolgedessen stünde nicht nur mehr Rohmaterial zum Verkauf, sondern der größere Teil der Bevölkerung, die jetzt mit Spinnen und Weben beschäftigt ist, würde für die Landwirtschaft zur Verfügung stehen.“ Aus der genauen Beschreibung der sozialen und wirtschaftlichen Transformation der Baumwollwirtschaft kristallisiert sich Beckerts Verständnis von Kapitalismus heraus: Er setzt nicht mit der englischen Fabriksindustrie an, sondern steigt mit der europäischen Aneignung und Zusammenführung der bestehenden Fernhandelsnetze von Baumwollwaren ein. Der Kapitalismus war global, bevor europäische Produzenten den Aufbau einer einheimischen Baumwollindustrie in Angriff genommen hatten.

Dass die Verschiebung der industriellen Zentren nach (West-)Europa gelungen ist, ist Beckert zufolge nicht nur den technischen Erfindungen und institutionellen Reformen geschuldet, sondern dem Bündnis von Unternehmern mit der Staatsmacht. Erst mithilfe starker Staaten konnte der Binnenmarkt entwickelt und geschützt, konnten Märkte der alten Baumwollzentren erobert und örtliche Produzenten in Zulieferer von Rohbaumwolle für das westeuropäische und nordamerikanische Fabrikssystem umfunktioniert werden. Sobald diese Arbeitsteilung etabliert war, konnte das Pendel vom Kriegs- zum Industriekapitalismus umschlagen. Die globale Landwirtschaft ordnete sich Takt und Erfordernissen des Industriesystems unter. Die Industrieländer konkurrierten dabei um Boden, Rohstoffe und Arbeitskräfte.

Das 20.Jahrhundert ist von einer neuen internationalen Arbeitsteilung gekennzeichnet. Die Schließung der Baumwollbörse in der Old Hall Street in Liverpool, dem einstigen Baumwollimperium-Herzstück, und die Versteigerung des Mobiliars symbolisieren die Verlagerung der Baumwollverarbeitung in den globalen Süden, insbesondere nach Süd- und Ostasien. Es handelt sich einerseits um eine Rückkehr an ihre Wiege, nun allerdings in Form einer Übernahme des Industriekapitalismus durch postkoloniale Unternehmer. Diese setzten auf Markt, Gesetz und Staatsmacht beim Aufbau ihrer Industrie, in der Textilien eine zentrale Rolle spielten. Ihr Trumpf waren die billigen Arbeitskräfte, die schließlich den Ausschlag dafür gaben, dass die alten Industriestaaten ihre Abschottungsmaßnahmen gegen die Einfuhr verarbeiteter Textilien aufgaben und die Abwanderung der Textilstandorte in den Süden als Chance aufgriffen, neue, höheren Ertrag versprechende Investitionsfelder zu erschließen.

Es ist es fraglich, ob das Wiedererstehen der Baumwollindustrie in Asien und anderswo einen Machtwechsel widerspiegelt, wie Beckert annimmt. Denn wieder sind es die großen westlichen Handelsketten, die heute die globalen Güterketten kontrollieren und Regierungen, Zulieferbetriebe und Arbeitskräfte gegeneinander ausspielen, um Lohnkosten, Sozialleistungen und Steuern zu sparen. Was mit dem erneuten Umbau der Baumwollwirtschaft unter Beweis gestellt wird, ist die hohe Flexibilität des Kapitalismus, räumliche Muster, Geschäftspraktiken, Arbeits- und Unternehmensorganisation anzupassen. Ob das Baumwollimperium damit „nicht nur produktiver, sondern auch gerechter wird“, wie Beckert hofft, wird die Zukunft zeigen. ■

Sven Beckert

King Cotton

Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Annabel Zettel und Martin Richter. 526 S., 38 Abb. und 7 Karten, geb., €30,80 (C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2014)

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