Schänder, Scheusal, Stilist

Der Marquis de Sade hat mit seinen besessenen Bohrungen in den Abgründen der menschlichen Natur eine Ästhetik des Schreckens begründet, die bis in die Moderne wirkt. Vor 200 Jahren starb der Marquis im Irrenhaus Charenton in Paris.

Er ist der Paria der Literatur. Kein anderer Autor hat so viel Ablehnung, Widerwillen und Abscheu erfahren. Seine Bücher zählen zu den extremsten Dokumenten des menschlichen Geistes. In den ausschweifenden Phantasmagorien mancher seiner Werke tobt sich eine schrankenlos egozentrische Natur in ihren Lust- und Hassorgien ohne Rücksicht auf Leiden und Schmerzen anderer aus. Rückhaltlos wird eine Welt herbeiimaginiert, die nur dazu da ist, dem Ausleben der Genusssucht eines Monomanen der Sexualität zu dienen. Die Vernichtung von Würde, Scham und körperlicher Unversehrtheit der Mitwelt bedeutet hier eine extreme Steigerung der Lust, deren Urgrund Macht ist: Macht über Menschen, über die Natur und über einen Gott, der, obschon geleugnet, gleichwohl wütend bekämpft wird: einzig, weil er anderen etwas bedeutet.

Indes, seine Imaginationen kann man keinem Schriftsteller vorwerfen. Man kann sieausbuhen oder beklatschen, je nach Wertschätzung und Vorstellung. Aber dieser Verfasser war selbst ein Wüstling. Als gerichtsnotorischer Vergewaltiger sowie Kinder- und Frauenschänder hat er viel Unglück über seine Opfer gebracht und die Verantwortung dafür stets zynisch von sich gewiesen. „Gebieterisch, jähzornig, ohne Maß und Ziel, in den Sitten von einer wirren Fantasie, die nicht ihresgleichen hat, Atheist bis zum Fanatismus, kurz gesagt, so bin ich, und, noch einmal, tötet mich oder nehmt mich so, wie ich bin, denn ich werde mich nicht ändern.“ Das bekennt er, schonungslos hochfahrend, schon in jungen Jahren.

Wozu sich mit solch einem Scheusal beschäftigen? Weil es sich lohnt. Vor allem, weil Donatien Alphonse François Marquis de Sade, obwohl sich sein Charakter und Werk vor dem Tribunal der Moralgeschichte der Menschheit wüst ausnimmt, als Pionier in der Erforschung der abgründigen Natur des Menschen Geltung beanspruchen kann.

Genüssling der Laster

Und weil er als „wortmächtiger Liebhaber und Theoretiker des Bösen“ (so sein neuesterBiograf Volker Reinhardt) ein konsequenter Autor von Graden war, ein mit allen Wassern der Literaturgattungen – Roman, Erzählung, Drama – gewaschener Stilist. Zwar vermag man als Leser seiner sexualphantasmagorischen Schriften die aufgetürmten Abartigkeiten, Gräuel und Menschenschindereien vor Ekel ohnehin nicht lang durchzuhalten. Aber de Sade, dieser Genüssling der abgeschmacktesten Laster und Grausamkeiten, ist darin der Gebieter über ein Experimentierlabor, in dem er sich im Vorfeld der Französischen Revolution aus ureigenstem sexuellen Antrieb der Ausforschung der äußersten Grenzen der menschlichen Natur hingegeben hat. Diese dauerhaften Grenzerkundungen nennt Volker Reinhardt in seiner profunden Darstellung Vorstöße „in eine Terra incognita des unerhört Bösen – wie Forschungsreisende, die die Romanwelt des Marquis bezeichnenderweise so zahlreich durchziehen“.

Noch in der berüchtigsten seiner Hervorbringungen, dem Monsterroman „Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung“, hat de Sade eine Phänomenologie der sexuellen Perversionen vorweggenommen, die erst ein knappes Jahrhundert nach ihm wissenschaftlich differenziert (vor allem von dem deutsch-österreichischen Psychiater Krafft-Ebing in seiner „Psychopathia sexualis“) erschlossen wurde. 600 Perversionen, so haben Spezialisten errechnet, werden in dieser literarischen Orgie, die sich über ein Jahresdrittel hinziehen soll, zumindest skizziert. Damit sind wohl alle Abarten, die später die Sexualpathologie in ihr Verzeichnis aufgenommen hat, mit Fallbeispielen belegt.

Sind wir hier noch auf dem Territorium der Literatur? Unleugbar ja. De Sade hat mit seinen besessenen Bohrungen in den Abgründen der menschlichen Natur eine Ästhetik des Schreckens und der Gewaltbeschwörung begründet, die als Schlagschatten der Aufklärung mit elementarer Wucht bis in die weitverzweigten künstlerischen Auseinandersetzungen der Moderne gewirkt hat.

In seinem wild bewegten Leben war der 1740 in eine uralte provenzalische Adelsfamilie hineingeborene Marquis ein Vabanquespieler, der alles auf die Karte seiner Libido setzte. Schon vor der ausschließlich zur Mehrung des Familienvermögens arrangierten Heirat als 23-Jähriger mit Renée de Montreuil, der reichen, aber ungeliebten Tochter eines Kammerpräsidenten, war der Libertin mit allen Formen des in Bordellen erlernbaren Eros vertraut. Diese Freizügigkeit behielt er in der Ehe bei. Er hielt Orgien mit jungen Dirnen oder bezahlten Arbeitermädchen ab, die sich alsbald über brutale Übergriffe von Gewalt und Misshandlungen beklagten.

Im Oktober 1763 wurde de Sade zum ersten Mal, noch kurz, im Zwinger von Vincennes in Haft gesetzt. In den Jahren danach häuften sich die einschlägigen Vorwürfe, bis 1768 ein erster größerer Skandal den Ruf des Marquis in der Öffentlichkeit nachhaltig erschütterte: Er hatte die junge Witwe eines Deutschen namens Rosa Keller unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in sein Lustquartier nahe Paris gelockt und die Gefesselte neben der Nötigung zu blasphemischen Handlungen so lange ausgepeitscht, bis Blut floss. Er goss heißes Wachs in die Wunden und überließ die Gemarterte ihrem Schicksal. Sie konnte entfliehen und Anzeige erstatten: Ihr Missetäter kam mit einer glimpflichen Strafe davon.

Schwerer wog da schon ein Skandal, der sich 1772 in Marseille zutrug. In Gesellschaft eines Lakaien hatte de Sade in einem Bordell mit Kantharidin versetzte Pralinen an die Prostituierten verteilt, um die Wirkung des aus der spanischen Fliege gewonnen Aphrodisiakums zu erproben. In den Tagen nach den Exzessen erlitten die Mädchen durch die verabreichte Droge lebensbedrohliche Schmerzen und zerrten den Peiniger vor Gericht. Nun schlug das Gesetz unbarmherzig zu: De Sade und sein Diener wurden wegen versuchten Giftmords und verbotener sodomitischer Praktiken in Abwesenheit zum Tod verurteilt.

Der solcherart Inkriminierte war mit der Schwester seiner Frau, die ihm noch immer treu ergeben war, nach Italien entflohen. Dort richtete er die junge Geliebte zur Edelkurtisane ab. So viel Ungemach in der Familie reichte der Schwiegermutter: Die resolute Madame de Montreuil betrieb zwar die Aufhebung des Todesurteils, verlangte aber die dauerhafte Einkerkerung des Unheilbringers.

Fortan wird es der Ehrgeiz des 27 Jahre lang im Kerker Schmachtenden, als „Homme de lettres“ in die Geschichte der Literatur einzugehen. Nun erst schwingt er sich zum Propagandisten von Verderbnis und Verbrechen auf. Sein wütend bekämpfter philosophischer Antipode wird Rousseau. Im Drang, dessen idealistischen Naturbegriff durcheinen kruden Materialismus aus dem Feld zu schlagen, häuft er literarisch die immergleichen Beweise dafür auf, dass der Mensch nicht von Natur aus gut sei. Das wahre Element der Natur, so argumentiert er, ist die kreative Zerstörung. Das Mittel dazu: die Grausamkeit. So exkulpierte er seine eigenen Umtriebe. Abgeschnitten von den Freuden der Welt, verspürte er wie ein Raubtier hinter Gittern einen erhöhten Wildnisbedarf.De Sade stilisierte sich nun zur prometheischen Gestalt: als derjenige, der der Menschheit – gegen die herrschende Doppelmoral – die Bejahung des radikal Bösen brachte.

Der Inhaftierte nannte dies Freiheit. Im Anfang war die Untat: Dieser bewusst aller konstruktiven Moral entgegengesetzten Devise scheinen alle handlungsmächtigen Gestalten seiner der Lust am Destruktiven und an den ausgefallensten Tötungsfantasien hingegebenen Romane zu huldigen. In seinem schon 1793 erfolgreichen Doppelroman über zwei ungleiche Schwestern namens Justine und Juliette wird mit riesigem Fantasieaufwand die bestrafte Tugend gegen die belohnte Lasterhaftigkeit ausgespielt.

Hinter aller penetrant beschriebenen Ausschweifung verbirgt sich de Sades tiefere Lust, den negativen Gottesbeweis zu führen: „Entscheidet selbst: Wenn es einen Gott gäbeund dieser Gott Macht besäße, würde er es zulassen, dass eure Tugend, mit der ihr ihn ehrt, dem Laster und der Ausschweifung geopfert wird?“, wird in „Juliette“ gefragt.

Stärker noch als Gott, den er nichtbraucht, hasst de Sade die Frauen, die er bis zur Verzehrung nach ihnen nötig hat. In seinen in der Gefängniseinsamkeit erdachten heißen Hirngespinsten versieht dieser Pansexualist jeden seiner Wüstlinge mit einem Frauenhass, der seine Erregung durch Gewalt und Quälsucht steigert. Im Gegensatz zu Casanova, der die Verführung liebt, fiebert de Sade in Fantasien der Verderbnis. Anders als bei Casanova, der gleichfalls die Wollust feiert, wird hier Zuneigung in ihr Gegenteil verkehrt: in eine Abneigung, die vom Unterwerfungs- bis zum Vernichtungswillen gesteigert wird.

Mit diesen literarisch entwickelten Einsichten in die jedem menschlichen Charakter innewohnenden zerstörerischen Triebe nahm de Sade im 18.Jahrhundert Erkenntnisse vorweg, die nicht nur für die moderne Kriminalpsychologie bedeutsam wurden. Als Psychologe war de Sade wegweisend. Er räumte radikal mit idealistischen Verbrämungen der Sexualität auf und bewies, dass deren Urtrieb die Aggression ist. Freud verdankte ihm wesentliche Einsichten. Unter dem Eindruck der Terreur der FranzösischenRevolution, als er kurzfristig freikommt, wird de Sades menschenverachtender Nihilismus bis zum Äußersten gesteigert. Raub, Inzest und Mord werden jetzt in seinen Schriften als verdienstvolle Taten geadelt, die Verweigerung des sexuellen Begehrens jedes Beliebigen – ob Mann oder Frau – wird unter Strafe und den Zwang zur allgemeinen Prostitution gestellt. Hier entlarvt sich der egomanische Libertin de Sade endgültig als jener, der er schon immer war: als Exorzist der Freiheit.

Der politische Körper

De Sades ästhetische Wirkung auf die Moderne, auf die Schwarze Romantik, den Surrealismus, auch auf Teile des Existenzialismus war enorm. Camus' Vorwurf der „Erniedrigung des Menschen zum Versuchsobjekt“ wurde längst nicht allgemein geteilt. Spätestens seit den politischen Verbrechen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert kann man sich de Sade indes nicht mehr nur mit den Handschuhen des ästhetischen Freigeists nähern. Seine Gräuel sind keine Hirngespinste, sondern nachträglich bestätigte Exzesse von Tötungslust und vernichtungssüchtigem Herrenmenschentum. Die todbringende NS-Ideologie der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ etwa findet sich in de Sades „Justine“ vorweggenommen: „Der politische Körper müsste nach denselben Regeln wie der menschliche Körper behandelt werden. Würde ein Mensch aus Mitleid die Würmer schonen, die seinen Leib zerfressen?“

Folgerichtig hat Pier Paolo Pasolini 1975 bei seiner Verfilmung der „120 Tage von Sodom“ den Schauplatz ins faschistische Italien Mussolinis verlegt, als Menetekel einer Ideologie, die vor der Massenvernichtung unschuldiger Opfer nicht zurückgeschreckt ist.

Zuletzt war de Sade 13 Jahre lang, bis zu seinem Tod am 2.Dezember 1814, Gefangener im Irrenhaus von Charenton. Dort veranstaltete er mit Patienten Theaterfeste, die in Paris rasch zur Sensation wurden – auch, weil er selbst mitspielte. Die Bühne kam seinem lebenslang inszenierten Exhibitionismus sehr entgegen. So vollendete er sein Dasein und Schreiben folgerichtig als jene Art Histrione, die man im Theaterjargon Rampensau nennt. ■

Volker Reinhardt

De Sade oder Die Vermessung des Bösen

Eine Biografie. 464 S., geb., €27,80
(C.H. Beck Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.11.2014)

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