Weniger Gefühl als ein Vieh

Dramatisch: Liao Yiwus Interviews mit verfolgten chinesischen Christen.

Wie kein anderer zeitgenössischer chinesischer Autor hat Liao Yiwu uns das heutige China abseits der glitzernden Boomstädte nähergebracht. Er hat uns herumgeführt in dunklen Seitenstraßen und trostlosen Dörfern, er hat uns mit den dort lebenden Armen, Kranken und Ausgestoßenen bekannt gemacht. Er gewann ihr Vertrauen, führte Interviews, goss ihr Gesagtes in eine mitreißende Sprache. Der deutsche Sinologe Hans Peter Hoffmann bemühte sich in seinen Übersetzungen, nichts von diesen faszinierenden Texten verloren gehen zu lassen. Das ist gelungen, was nicht zuletzt die zahlreichen deutschen Auszeichnungen für Liao Yiwu zeigen, etwa der Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2012.

Vor drei Jahren hatte Liao Yiwu von der nervigen staatlichen Überwachung und den permanenten Schikanen der Behörden genug und setzte sich via Vietnam in die Bundesrepublik ab. Gut für ihn persönlich, traurig für all jene, die ihn für den bedeutendsten Berichterstatter über die benachteiligten Schichten der chinesischen Gesellschaft ansehen.

Nach den Interviewbüchern „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ (2009), „Die Kugel und das Opium“ (2012), „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ (2013) erschien jetzt „Gott ist rot“, Gespräche mit verfolgten chinesischen Christen. Es ist das schwächste seiner bisher durchwegs außergewöhnlichen Bücher. Denn irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass hier eine Art „Restlverwertung“ vorgenommen wurde: Interviews, die in früheren Büchern keinen Platz mehr gefunden haben, werden hier eben unter dem Thema „Verfolgte Christen“ zusammengefasst. Doch, doch, auch in diesem Band finden sich etliche hochinteressante Gespräche mit hochinteressanten Menschen, etwa der 100 Jahre alten Nonne Zhang Yinxian, dem tibetischenKatholiken Jia Bo'e oder dem selbstlosen Armenarzt Doktor Sun.

Als der Pöbel zum Herrn wurde

Dieser machte in den 1990er-Jahren Karriere an der Medizinischen Hochschule Suzhou, fand dann über Gebetsversammlungen im Wohnheim für Auslandsstudenten zum Christentum. „Das Wesen derBibel ist Ehrfurcht, ist Liebe“, sagt Doktor Sun. „Und in China fehlte das, es fehlte an Ehrfurcht, es fehlte an Liebe. Für den kleinsten persönlichen Vorteil war man bereit, alles zu tun. Sollte ich mich auf die Führung der Partei verlassen?“ Er tat es nicht und zieht nunmehr durch die Dörfer Yunnans, um die Ärmsten der Armen medizinisch zu versorgen.

Pastor Zhang Maoen blickt in seinem Erfahrungsbericht zurück in die Zeit der 1950er und 1960er, als der Vorsitzende Mao den Pöbel zum Herrn werden ließ und dieser seine ganze überschüssige Kraft im Klassenkampf konzentrierte. Mord, Totschlag, Aufteilung der Beute: „Menschen haben weniger Gefühl als ein Vieh. Wenn er zuschlagen will, schlägt er zu, wenn er töten will, tötet er“, berichtet der Pastor. Die Gläubigen, vor allem die gläubigen Christen, bekamen das Wüten der Aktivisten besonders zu spüren.

Trotz solcher dramatischer Lebensberichte: Was diesem Buch fehlt, ist ein Überblicksessay, der all die Lebensberichte von Christen in den größeren politisch-sozialen Kontext der damaligen Zeit einordnet, der die Grundzüge der Religionspolitik der Kommunistischen Partei erklärt und so auch die Zusammenhänge des Geschehens unten an der Basis der Gesellschaft besser erkennen lässt. ■

Liao Yiwu

Gott ist rot

Geschichten aus dem Untergrund – Verfolgte Christen in China. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. 352S., geb., €22,60 (S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2014)

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