Kalifen, Scheichs, Sultane

Albert Hourani (1915–1993) war ein englischer Orientalist. Sein Grundlagenwerk „Die Geschichte der arabischen Völker“ erscheint nun in einer um die aktuelle Entwicklung bis zum Arabischen Frühling erweiterten Fassung. 14 Jahrhunderte islamische Welt: differenziert und kompakt.

Bei umfangreichen und umfassenden Werken wie „Die Geschichte der arabischen Völker“ ist es angebracht, auch auf die Geschichte des Autors Bezug zu nehmen, um den Blickwinkel, aus dem sein an sich distanziert wissenschaftliches Schreiben erfolgt, besser orten zu können. Albert Hourani wurde als Sohn eines aus dem Libanon stammenden griechisch-orthodoxen Baumwollhändlers 1915 in Manchester geboren. Der Vater war in England zum schottischen Presbyterianertum konvertiert, damals ein Zeichen von Säkularismus, wohingegen Albert Hourani später zum katholischen Glauben übertrat.

Er studierte am Magdalen College in Oxford Philosophie, Politik und Ökonomie, bevorzugte dann aber die Geschichtswissenschaft und begann, sich vor allem mit der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens zu beschäftigen. Er reiste mehrmals in den Libanon, wo er eine Dozentenstelle an der American University of Beirut erhielt. Auch lernte er damals die Familien seines Vaters und seiner Mutter kennen und eignete sich das klassische Arabisch auf akademischem Niveau an.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Hourani als Analyst an der von Arnold Toynbee geleiteten Forschungsabteilung des britischen Außenministeriums. 1942 schickte man ihn auf eine Forschungsmission in den Nahen Osten. Er erhielt eine Stellung im Amt des Britischen Ministers in Kairo, wo er bis 1945 blieb. Von Musa Alami, laut Hourani einem der „intelligentesten und interessantesten unter den palästinensisch-arabischen Führern“, ließ er sich dazu überreden, sich dem Arab Office in Jerusalem anzuschließen, und arbeitete „zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben als Propagandist“, doch fühlte er sich in dieser Rolle keineswegs wohl und kehrte 1948 nach Oxford zurück, wo er die Nahost-Abteilung gründete und dann ein Leben lang leitete. Auch lehrte er weiterhin an der American University of Beirut und als Gastprofessor, etwa an den Universitäten von Harvard und Chicago. 1993 starb Hourani als Emeritus in London.

Houranis zahlreiche Schüler nehmen weltweit wichtige Positionen (vor allem an amerikanischen Universitäten) ein – was Martin Kramer vom Shalem College in Jerusalem, einen Princeton-Absolventen (Near Eastern Studies), dazu veranlasste, in seiner Rezension der Hourani-Biografie von Abdulaziz al-Sudairi Hourani als den Pascha der Nah- und Mittelost-Studien zu bezeichnen, der einem ganzen Netzwerk aus Beziehungen zwischen Schirmherr und Klienten vorstehe. Angemessener wäre es jedoch, Hourani mit einem Sufi-Scheich oder Meister zu vergleichen, der seine jungen Anhänger zu größter Wahrheit und besserem Verständnis zu führen versucht hat, meint Malise Ruthven, angloirischer Cambridge-Absolvent, BBC-Journalist und Islam-Kenner, der 19Jahre nach dem Tod des Autors Vor- und Nachwort zur Neuauflage der „Geschichte der arabischen Völker“ geschrieben und nicht zu Houranis Schülern gehört hat.

Während Ruthven in seinem Vorwort vordringlich Leben und Werk Houranis würdigt, handelt es sich beim Nachwort eher um eine Fortsetzung bis zum Jahr 2012, in der sowohl die zwischen 2002 und 2005 erschienenen „Arab Human Development Reports“ der Vereinten Nationen (an denen auch ein Schüler Houranis mitgearbeitet hat) als auch der Arabische Frühling und seine unmittelbaren Auswirkungen berücksichtigt werden.

Ein für alle lesbares Buch

Dass es sich bei einem Werk wie „Die Geschichte der arabischen Völker“, das als Lebenswerk Houranis gilt, um bestens recherchiertes Quellenmaterial und dessen Aufarbeitung handelt, steht außer Frage. Dass dieses Buch (erstmals erschienen 1991) auch noch mehrfach auf der Bestsellerliste der „New York Times“ aufgeschienen ist, spricht für seine Lesbarkeit. Ein wichtiger Punkt, denn Horani schrieb es für eine allgemeine Leserschaft, die etwas über die arabische Welt erfahren möchte, sowie für Studienanfänger.

Thema ist die Geschichte der arabischsprachigen Länder vom Aufstieg des Islam bis zum Ende der 1980er-Jahre, wobei Hourani nicht darum herumkam, auch auf das Osmanische Reich und die Expansion des europäischen Handels- und Herrschaftsgebiets (sprich Kolonialismus) einzugehen. Dass das Ergebnis über 700 14-zeilige Seiten umfasst, nimmt nicht wunder, schließlich geht es um beinah 14 Jahrhunderte und je nach dem, was man und zu welcher Zeit dazuzählt, um mehr als zehn Länder. Houranis Strategie bei der Bewältigung der Unmengen von Material geht dahin, dieses Material in fünf Teile zu gliedern, und zwar in die Welt des frühen Islam (vom siebenten bis zum zehnten Jahrhundert), die Entwicklung der arabisch-muslimischen Gesellschaft (vom elften bis zum 15.Jahrhundert), das osmanische Zeitalter (vom 16. bis 18.Jahrhundert), jenes europäischer Imperien (1800–1860) und jenes der Nationalstaaten (seit 1939).

Martin Kramer wirft Hourani in der genannten Rezension auch vor, dass sein Credo die Sozialgeschichte auf der Basis mehrerer vom Marxismus hergeleiteter Ideen beziehungsweise jener der Historikerschule der Annales sei, zu deren bekanntesten Vertretern übrigens Fernand Braudel gehörte.

Warum auch nicht. Gerade die Geschichte des Sozialen trägt zum Verständnis dessen, was Hourani vermitteln möchte, nämlich die Entstehung und Entwicklung von Gesellschaften, vieles bei. Ob man nun Statistiken mag oder nicht, wenn es um Abnahme und Wachstum von Bevölkerungen, Alphabetisierungsquoten oder Pro-Kopf-Einkommen geht, sind Zahlen äußerst hilfreich, erst recht, wenn sie entsprechend kommentiert werden. Wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass das enorme Bevölkerungswachstum in fast allen arabischen Ländern im 20.Jahrhundert weniger mit einem Ansteigen der Geburten als mit der Abnahme von Kindersterblichkeit und der Zunahme von Lebensalter zu tun hat.

Hourani arbeitet in jedem der genannten Kapitel sämtliche arabischsprachige Länder ab (weswegen sich das Buch auch gut als Nachschlagewerk eignet), vergleicht die einzelnen Gesellschaften auf ihre differierenden Strukturen hin und versucht trotz all der Unterschiede, so etwas wie eine gemeinsame Entwicklungslinie freizulegen. Was immer wieder zu dem Begriff der Asabiya führt, der bereits von dem großen islamischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts Ibn Chaldun verwendet wurde. Asabiya bedeutet so viel wie Gemeinschaftsgeist, der sich darauf ausrichtet, Macht zu erlangen und zu bewahren. Man könnte dazu auch Solidarität oder Clandenken sagen. Wobei die Asabiya eher ein ländliches Phänomen ist, mit deren Unterstützung jedoch vom Rand her immer wieder neue Dynastien und Regime entstanden sind.

Aus dieser Sicht lässt sich auch erklären, warum Saddam Husains Regime so lange überlebt hat, nämlich durch die Asabiya seines al-Bu-Nasr-Clans aus Tikrit. Was einfach bedeutet, dass soziale Identitäten, die sich auf die Familie oder den Clan stützen, meist dauerhafter als solche sind, die auf den formalen Aspekten eines öffentlichen Amts basieren, wie Hourani und mit ihm Ruthven betonen. Im Lauf seiner ausgedehnten Recherchen kam Hourani zu dem Schluss, dass die Rolle des Osmanischen Reichs in den meisten Studien unterbewertet worden war. Umfasste es doch, abgesehen von Teilen Arabiens, dem Sudan und Marokko in seiner Glanzzeit (15., 16.Jahrhundert) alle arabischsprachigen Länder, dazu noch Anatolien und Südosteuropa. Hourani definiert es als bürokratischen Staat, der verschiedene Regionen unter einem einzigen administrativen und fiskalischen System zusammengefasst hat. Es sei auch zum letzten Mal Ausdruck der Universalität der islamischen Welt gewesen. Ein Mehrreligionenstaat, der christlichen und jüdischen Gemeinschaften einen anerkannten Status gewährte. Wobei zu bedenken sei, dass sich das Regime (die osmanische Verwaltung) mit seinen Kontrollmaßnahmen hauptsächlich auf städtische und stadtähnliche Räume erstreckte, während die sogenannten unwegsamen Gegenden (meist Stammesgebiete) zum Teil autonom und bis zu einem gewissen Grad unabhängig, das heißt lokalen Machthabern verpflichtet, blieben.

Der Titel Kalif wurde von den osmanischen Herrschern zwar verwendet, doch bedeutete das nicht mehr den Anspruch auf die universelle und ausschließliche Autorität, wie sie früheren Kalifen zugesprochen worden war.

Der oberste Geistliche war der Scheych ül-islam, der als religiöser Berater des Sultans fungierte, jedoch nicht zum Divan des Sultans gehörte, was als Zeichen seiner Unabhängigkeit und der Befugnis, die anderen Würdenträger zu tadeln, gewertet wurde. Überhaupt galt es für nicht im Sinn des Islam, wenn geistliche Würdenträger sich auf Politik einließen. Dennoch gehörten die meisten UIlama, die Geistlichen, dem Regierungsapparat an. Sie wurden in Staatsschulen ausgebildet, traten in den Staatsdienst ein und hofften auf hohe Positionen. Eine Tradition, auf die seit Erdoğans Machtantritt auch heutige türkische Geistliche, die ebenfalls in staatlichen Schulen ausgebildet werden, mit Sympathie zurückblicken.

Hourani ist davon überzeugt, dass die osmanische Macht und Kultur im 18.Jahrhundert die arabischen Provinzen enorm geprägt hat. Die Idee einer osmanischen Nationalität in einer Gesellschaft, die sich hauptsächlich von ihrer Religion her definierte, war nicht von langer Dauer und machte im 20.Jahrhundert den verschiedenen Nationalismen Platz. Die Entstehung des türkischen Nationalismus sieht Hourani als Reaktion auf den anhaltenden und zunehmenden Druck aus Europa und den Zusammenbruch ebenjener osmanischen Nationalität.

Nationalismus unaufhaltsam

Infolge der zunehmenden Kolonialisierung von größeren Teilen des Osmanischen Reichswar auch der Nationalismus nirgends mehr aufzuhalten. Jene von Hourani als im Großen und Ganzen als stabil gepriesene osmanisch-arabische Welt veränderte sich dadurchzusehends und unaufhaltsam.

Gegen die gelegentliche Kritik an Hourani, dass er nicht nur das osmanische Imperium, sondern auch den europäischen Kolonialismus zu milde beurteilt hätte, lässt sich einwenden, dass er weniger zu beurteilen, als sine ira et studio festzustellen versucht hat, was durch Daten abgesichert ist. Auf diese Weise legte er Entwicklungsverläufe frei, deren Gründe und Hintergründe er anhand des ihm zur Verfügung stehenden Materials zu erkennen glaubte.

Wobei er den Genozid an den Armeniern als Detail der Entstehung des Nationalismus ebenso distanziert beschrieb wie die vielen mystischen Strömungen des arabischen und türkischen Islam, die bis in die Elitetruppe des Osmanischen Reichs, die Janitscharen, hineinreichte und damit tief in die Politik, was von einigen als Marginalisierung gesehen wurde. Dennoch ist Houranis Lebenswerk ein bedeutender Beitrag zu einem differenzierteren Verständnis dessen, was seit dem siebten Jahrhundert in der arabischsprachigen islamischen Welt vor sich gegangen ist, einer Welt, die lang den größten Teil des Osmanischen Reichs ausmachte, und wie sie in einen Kontext sowohl innerhalb der islamischen als auch mit der sie umgebenden Welt zu bringen ist. ■

Albert Hourani

Die Geschichte der arabischen Völker

Weitererzählt bis zum Arabischen Frühling von Malise Ruthven. Aus dem Englischen von Manfred Ohl, Hans Sartorius, Michael Bischoff. 704 S., geb., €35
(S.Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2014)

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