Am schwersten lügt sich's mit Musik

Wer war Oskar Baum? Eine Sammlung von Kritiken, Porträts und Artikeln erinnert an den blinden Prager Musikkritiker und Literaten.

Oskar Baum war einer der maßgeblichen Prager Musikrezensenten der Zwischenkriegszeit, zudem ein pointiert formulierender, scharfsinnig in die Zukunft blickender Feuilletonist, wie diese Auswahl aus seinen Kritiken, Porträts und Beiträgen zeigt, die sich auch mit jüdischen Phänomenen, dem Verhältnis der Blinden zu den Künsten oder Literaten wie Kafka oder Beer-Hofmann befassen.

Es komme nicht darauf an, „wie es wirklich ist, das heißt, wie es die anderen sehen. Würde jeder nur auf eigenen Sinnes- und Gefühlseindrücken seine Meinungen bauen, also nicht in Übersetzungen denken, ein anderes Menschengeschlecht würde leben!“, liest man in Baums „Selbstbegegnung“. Aus gutem Grund, denn der 1883 in Pilsen als sechster Sohn eines Tuchwarenhändlers geborene Oskar Baum war blind. Von Geburt an sehschwach, verlor er mit elf Jahren bei einer Rauferei das Augenlicht. Gleichaltrige hatten ihm nachgestellt, weil sie ihm ein deutsches Buch neideten, das der junge Jude besaß. Eine antisemitische Hasstirade mit schrecklichen Folgen.

Für Baum hatte dieser Schicksalsschlag, den er bis zu seinem Tod im März 1941 in Prag – womit er im Gegensatz zu seiner Frau der drohenden Deportation und Ermordung zuvorkam – bewundernswert meisterte, gravierende Folgen. Er musste den Besuch des Gymnasiums abbrechen und wechselte von 1894 bis 1902 an die jüdische Blindenanstalt Hohe Warte, wo er sich zum Musiklehrer ausbilden ließ. Unter anderem beim blinden Komponisten Josef Labor, zu dessen prominenten Schülern die Komponisten Arnold Schönberg und Julius Bittner ebenso zählten wie der einarmige Pianist Paul Wittgenstein und Gustav Mahlers Gattin Alma.

Was er Labor verdankte, hat Baum in einem Nachruf in der „Prager Presse“, für die er ab 1922 schrieb, ausführlich beschrieben. Vor allem ein hohes Verständnis für die bis in die Gegenwart reichenden Stile und eine ihn bis zuletzt treibende Neugier für Neues, das er differenziert beurteilte. Etwa wenn er in einem Aufsatz über Mahler formulierte: „Musik ist die Kunst, in der sich am schwersten lügen und heucheln lässt“, über Bergs Oper „Wozzeck“ urteilt: „Hier ist ein wahrhaft neuer Kunstboden zu gewinnen, gesunde kühne Eroberungen.“ Manfred Gurlitts „Soldaten“ sind für ihn eine „neue Oper, die der kommenden Entwicklung einen möglichen Weg weist“.

Kritischer geht Baum mit zwei Erfolgswerken dieser Jahre um. Franz Schrekers Sensationserfolg „Der ferne Klang“ nennt er die „erfolgreichste, aber weichlichste seiner Opern“. Bei Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ lässt er nur die „kleinen aufblitzenden grotesken Episoden im Orchester“ gelten. „Grandios“ findet er den Schluss von Hindemiths Oper „Cardillac“, vermisst aber „Spannung und Leidenschaft“. Gar nicht kann er sich für die „aus innerstem Herzen kommende Verherrlichung des Philistertums“ in den Werkenvon Richard Strauss begeistern. Kritisch äußert er sich zum Symphoniker Schubert.

Ungleich mehr bedeuten ihm die Werke von Mahler, Zemlinsky – dessen Weggang als Dirigent aus Prag er tief bedauert – oder Debussys „Nocturnes“, wie man einer Kritik über das Prager Gastspiel der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler im Jahr 1927 entnehmen kann. Darin findet sich auch ein reizvoller Vergleich mit den Kollegen aus Wien: „Wenn sie, zumal manche Gruppe, an sinnlicher Klangfühligkeit zurückstehen, so machen sie das wett durch die unerhörte rhythmische Präzision, die Diszipliniertheit und Durchgeistigung.“ Bei den Wiener Philharmonikern faszinieren ihn die „berauschende Fülle und Schönheit des Klangkörpers, der vollkommene Ausgleich der süßen Streicher und weichen Bläser, die Virtuosität und der individualisierte herzbewegende Ausdruck jedes Solos“.

Ein Optimismus, „der eine höhere Art von Gründlichkeit ist“, spräche aus Baums literarischem Werk, sagte Thomas Mann. Mit einer Edition seiner Romane ließe sich dies verifizieren. An der Zeit wäre es. ■

Oskar Baum

Der Blinde als Kritiker

Texte zu Musik und Literatur. Hrsg. von Wolfgang Jacobsen und Wolfgang Pardey. 246S., brosch., €30,70 (Edition text + kritik, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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