30 Jahre Neid

Sechs Halbwüchsige, die in einem New Yorker Sommercamp die Exklusiven geben. Sie sind verliebt in sich selbst, halten das für Ironie und geben sich deshalb den Namen „Die Interessanten“. Meg Wolitzers Roman über eine US-amerikanische Elite mit hohem Standesbewusstsein, aber geringem Kontakt zur Außenwelt.

Die Interessanten“ – das klingt wie „Les Encyclopédistes“, „The Moderns“ oder „Die Dadaisten“, jene Gruppen mit Manifest, die zu verschiedenen Epochen in Europa Aufsehen erregt und deren Theorien darin bestanden haben, die Welt anders zu sehen, mitunter dadurch, dass man sich selbst auf den Kopf gestellt hat. Genau davon handeln „Die Interessanten“ nicht. Die „Interessanten“ sind weder Revolutionäre, noch sind sie Avantgardisten. Sie stellen weder die Welt noch sich selbst auf den Kopf. Sie sind keine Künstler, keine Bohemiens und keine Europäer. Sie sind eine Gruppe Halbwüchsiger, die in einem amerikanischen Sommercamp die Exklusiven geben. Sie sind verliebt in sich selbst und halten das für Ironie. Deswegen geben sie sich den Namen die „Interessanten“.

Vordergründig ist der Roman der New Yorker Autorin Meg Wolitzer das, was man im Angelsächsischen eine Coming-of-Age-Geschichte nennt. Die deutschen Begriffe – Entwicklungs- oder Bildungsroman – treffen diese Gattung nur unscharf. Es ist ein Roman, in dem es um das Älterwerden geht: Die erzählte Zeit umfasst ungefähr 30 Jahre. Aber auch wenn es sich hier um die sogenannten besseren New Yorker Kreise handelt, ist Bildung oder eine im altmodisch-europäischen Sinn zu erkennende Entwicklung nicht Thema des Romans. Vielmehr ist das Verblüffende an den Protagonisten, dass sie sich überhaupt nicht entwickeln. Das ist ihr Problem und der tragende Teil der Handlung. Das macht die armselige Düsternis des Geschehens aus, und das unterscheidet das Buch von anderen Amerikanern seiner Gattung, etwa Amor Towles' Roman „Eine Frage der Höflichkeit“ oder Louis Begleys „Ehrensachen“.

Alle erdenklichen Sparten der Kunst

Die Erzählung beginnt im Jahr 1974 in einem Feriencamp Upstate New York. Es ist ein exklusives Camp, in dem sich jedes Jahr dieselben Sprößlinge vermögender Eltern treffen. Nicht Sport steht im Mittelpunkt, sondern Kurse in allen erdenklichen Sparten der Kunst. Man hält sich für kreativ und besonders. Das leitende Ehepaar Wunderlich zeichnet sich durch Exzentrik, ein Faible für Sozialismus und eine Neigung zu alternativen Lebensformen aus. Ursprünglich kamen die beiden aus Manhattans West Village und hatten selbst Kreatives im Sinn. Mit der Zeit haben sie diese Pläne aufgegeben und sind einfach älter und dicker geworden. Für amerikanische Verhältnisse ist Belknap in der Tat ein außergewöhnliches Sommerlager.

Die Interessanten, die sich hier kennenlernen, zusammenschließen und während der erzählten Zeit des Romans wieder begegnen, sind drei Buben und drei Mädchen. Fünf von ihnen leben in Manhattan. Nur Julie Jacobson ist eine Außenseiterin. Sie kommt aus einer Vorstadt auf Long Island Sund und aus finanziell bescheidenen Verhältnissen. Sie kann es kaum fassen, dass Ash, das Uptown-Girl, sie eines Tages bittet, an ihren exklusiven Treffen teilzunehmen. Noch weniger kann sie sich erklären, warum. Jahre später, als sie längst zu Ashs Intima geworden ist, heißt es einmal: „Ash faszinierte Jules immer noch und zeigte ihr, wie sie sich durch die Welt bewegen sollte. Jules ihrerseits tat Ash einfach gut und amüsierte sie.“

Julie ist nur dank eines Stipendiums und auf Vorschlag ihrer Klassenlehrerin in den Genuss des edlen Camps gekommen, und dank Ash heißt sie bald nicht mehr Julie, sondern Jules. Der Sommer wird für einen Riss in ihrer Selbstwahrnehmung und in ihrem Leben sorgen. Danach ist nichts mehr wie vorher. Jules Aschenputtelposition ist zwar rein subjektiv und wird beständig von dem einen oder anderen des Kreises dementiert, aber sie bleibt ein Standpunkt, den Jules auch nicht verlässt, als sie älter, reifer, vor allem erfahrener wird. Die Rolle umspannt sie wie ein Sicherheitsgurt, der längst porös geworden ist. Aus der sturen Beschränkung entstehen Selbstverachtung, Neid und Scham: alles, was einem glücklichen Erleben entgegensteht.

Ash Wolf und ihr Bruder Goodman dagegen sind zunächst so etwas wie die schillernden Leitfiguren der Interessanten. Es ist ihr Elternhaus, das Labyrinth, in dem sich die Gruppe nach den Ferien trifft, jahrelang. Das Apartment der Wolfs liegt an der Upper West Side, 91.Street/Central Park West. Auchwenn das Manhattan der Siebzigerjahre noch nicht das glattgebügelte eines Giuliani oder gar Blumenberg war, und auch wenn noch heute Welten die früher vornehmlich jüdische Upper West Side von der pseudoeuropäischen Noblesse der Upper East Side trennen – das Gebäude, das einen ganzen Block einnimmt, ist ohne Zweifel eine pompöse Adresse. Gemeint ist der Art-déco-Palast The Eldorado. Das elegante Apartmenthaus mit Portier, das ähnlich wie The Berresford und The San Remo über zwei Türme verfügt, ist dazu angetan, jemandem, der aus einem der äußeren Bezirke kommt, ein Aschenputtelgefühl zu entlocken.

Offenbar ist Jules aber die Einzige der stets willkommenen Freunde, die sich von so viel High-Society-Tamtam beeindrucken lässt. Leider begreift der Leser kaum, warum, da die verwirrend opulente Umgebung gar nicht beschrieben wird, geschweige denn, dass man sie mit Jules Augen sieht. Ein Bild von der großen Kluft, die Ashs Herkunft von Jules' Familie trennt, kann sich nur machen, wer das Gebäude und seine Atmosphäre aus der Wirklichkeit kennt. Das spricht nicht gerade für die Sorgfalt der Fiktion. So bleibt der im Roman so oft genannte Neid 30Jahre oder 606Seiten lang eine ebenso traurige wie armselige Behauptung.

Ethan Figman, der zeichnerisch begabte Nerd unter ihnen, nimmt das Labyrinth indes so zur Kenntnis, wie er alles zur Kenntnis nimmt: gelassen und ohne vorschnelles Urteil. Als Scheidungskind, das von seinem überforderten Vater nur mangelhaft versorgt wird, hat er sich ein Paralleluniversum aus gezeichneten Figuren erschaffen, das ihn einmal in den Milliardärshimmel katapultieren wird. Cathy Kiplingers Hintergrund – sie ist das dritte Mädchen der Gruppe – bleibt bis zum Schluss diffus. Nur durch ihre Affäre mit Goodman hinterlässt sie den Eindruck andauernder Präsenz. Mit ihr beginnt eine Tragödie, die der ganzen Gruppe zusetzen und die schöne heile Welt der Familie Wolf zerstören wird. Cathy ist frühreif und weit klüger, als es zunächst den Anschein hat. Sie ist zudem äußerst attraktiv. Alle Jungen, bis auf Goodman, sind verrückt nach ihr. Dass sie sich ausgerechnet in den egoistischen jungen Wolf verliebt, entspricht dem Schema des Romans. In Cathy Kiplinger, einer wirklich interessanten Figur, deren Schattendasein im Roman bedauerlich ist, schimmert der Auftakt zu einem Verhängnis von Beginn an durch. Sie möchte leidenschaftlich gern Tänzerin werden. Schon im Camp arbeitet sie hart daran. Aber sie hat keine Chance. Ihr Körper ist ungeeignet, so begabt sie auch sein mag.

Jonah Bay schließlich ist der Sohn einer berühmten Folksängerin. Auch er ist ein musikalisches Talent. Seine Mutter allerdings hat sich nie besonders intensiv um ihn gekümmert, und so sind ihm in der entscheidenden Phase seiner Adoleszenz Dinge zugestoßen, die er auch als Erwachsener nicht überwinden kann. Bis auf die Geschwister Wolf scheinen die Interessanten auch die Verlorenen zu sein – zumindest über weite Strecken des Romans. Nur allzu gern also kommen die Halbwüchsigen in das Labyrinth und lassen sich von den Eltern Wolf verwöhnen und beraten.

Von Beginn an hängt ein schicksalhafter Dunst über der Erzählung. Das liegt auch daran, dass Wolitzer immer wieder andeutend vorgreift. Stetige Verweise wie „An jenem Abend, lange vor dem Schrecken, der Trauer und der Verfestigung“ sorgen für eine Atmosphäre diffuser Verunsicherung. Der Leser wird den Eindruck nicht los, dass die Interessanten schon verloren haben, ehe sie richtig in den Startlöchern stehen. Nach den zwei Monaten Sommercamp hat sich eine intensive Freundschaft zwischen Ash und Jules entwickelt, die sich über Jahrzehnte ausdehnen wird. Ihre Freundschaft ist der zentrale Schauplatz des emotionalen Spiels, dem der Roman seine Spannung verdankt.

Zugleich aber erlaubt das Verhältnis den Bericht von zwei Fronten: der prosperierenden auf der Seite Ashs, der alltäglich schwierigen auf der Seite von Jules. Die Kluft wird größer. Der Neidpegel steigt. Es ist das Bemerkenswerte an Wolitzers Roman, dass sie die zentrale Freundschaft zwischen Jules undAsh wie alle anderen Freundschaften auch im Zwielicht ambivalenter Gefühle schildert. Schon bald wird klar, dass auch unter den Kindern des Upper Manhattan der amerikanische Traum ausgeträumt ist. Die Selbstbezogenheit, die in den scheinbar sicheren Lebensverhältnissen blüht, ihre Gefühle, denen die Protagonisten auf geradezu bizarre Weise ausgeliefert sind, die Handlungen, die sie begehen, die Fehlentscheidungen, die sie treffen – die Autorin berichtet davon so detailgenau, als lägen die Figuren beständig unter einem Mikroskop.

Dabei schweift Wolitzers Blick auktorial über das Geschehen, greift nach Belieben vor, springt Jahrzehnte zurück, springt von einer Person zur anderen. Der Blick der Autorin ist so hermetisch wie der ihrer Protagonisten. Das sich in diesen 30 Jahren so sehr wandelnde New York kommt nicht vor. Als Jules das erste Mal nach Manhattan kommt, müsste ihr staunender Blick die gänzlich andere Umgebung wahrnehmen. Aber das Einzige, was das Mädchen aus der Provinz wahrnimmt, ist die Gruppe, die an der Penn Station auf sie wartet; das Einzige, was sie fühlt, ist die für sie empörende Andersartigkeit. Auch für die anderen fünf gibt es keine Außenwelt. Es gibt kein Wetter, keine Politik, keine anderen Menschen im ganzen Geschehen, wenn man einmal von Jules' Ehemann und den Kindern, die beide Frauen bekommen, absieht. Es scheint, als sei das Camp Upstate New York die einmal entworfene Matrix, der keiner von ihnen mehr entkommen kann – und will.

Ziel- und lustlos treiben lassen

Als erwachsene Frau noch versucht Jules, mit ihrem Ehemann, Dennis, ins Camp zurückzukehren, um dessen Leitung zu übernehmen. Enttäuscht stellt sie fest, dass Erinnerung nicht gleich Gegenwart ist. Die Interessanten sind weder interessant noch kreativ. Sie haben keine Visionen und lassen sich in ihre Berufe treiben, als schlenderten sie ziel- und lustlos durch eine Fußgängerzone. Sie bleiben Kleinwüchsige im geistigen und emotionalen Sinn. Graue Seelen.

Das Dumpfe dieses Romans liegt in seinem Personal. Die Figuren sind eingekapselt in sich und ihre Gefühle. Sie halten sich für das Epizentrum einer ihnen unbekannten Welt. Es gibt keine Umgebung, keine Metropole New York, keine Natur, geschweige andere Länder oder Kontinente. Es gibt nicht einmal andere Menschen, die diese engstirnigen Existenzen in Zweifel über sich selbst versetzen. Die Interessanten bleiben, was sie sind. Um Jahrzehnte gealtert sind diejenigen, die von der kleinen Gruppe schließlich übrig bleiben, immer noch so selbstverliebt wie in jenem Sommer 1974, als sie sich angeblich ironisierend ihren Namen gegeben haben. Sie sind immun gegen Erfahrung, die Außenwelt, jeden produktiven Prozess, ja jede Entwicklung überhaupt. So besteht die Armseligkeit ihres Daseins nicht in unerfüllten Träumen, sondern in der Unfähigkeit, über sich selbst hinauszugehen. Drängt sich die Frage auf: Ist der Roman eine Metapher für das Land, dem er entstammt? ■

Meg Wolitzer

Die Interessanten

Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. 608 S., geb.,
€23,70 (DuMont Literaturverlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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