Gesunde Verhältnisse!

Der Medizinjournalist Matthias Martin Becker legt Wert auf den sozialen Aspekt der Vorsorge.

Vorbeugen ist besser als heilen“ – was wäre plausibler? Wenn, ja wenn vorbeugen so einfach wäre. Hier aber liegen Fallen und Paradoxien verborgen, die sogar vielen Ärzten nicht bewusst sind. Darüber berichtet der Medizinjournalist Matthias Becker in seinem ebenso eingehend recherchierten wie populär verfassten Buch.

Was aber kann an der Idee, Krankheiten zuvorzukommen, überhaupt falsch sein? Spricht nicht schon die Geschichte der Präventivmedizin für sich? Gewiss waren die großen Erfolge in der Primärprävention (also der Verhinderung von Krankheitsentstehung) durch die epochalen Errungenschaften der Hygiene im 19. und 20. Jahrhundert bedingt. Die heutigen Herausforderungen sind hier nicht geringer geworden, man denke nur an multiresistente Keime oder Ebola. Ebenso gewiss sollte uns aber sein, dass die Bemühungen in der Sekundärprävention (Früherkennung, Frühbehandlung) bescheiden geblieben sind. Daran kann auchder aktuelle Hype an Vorsorgeuntersuchungen (und deren oft fragwürdige statistische Interpretation) wenig ändern.

So ist es auch vielen Ärzten nicht klar, in welchem Kontext das relative oder wann das absolute Risiko zählt und welche Schlüsse daraus gezogen werden dürfen. Das hat Gerd Gigerenzer auch an der deutschen Krebshilfe und deren überzogener Propaganda für die Mammografievorsorge kritisiert. Neben den Problemen der statistischen Beurteilung (die sogar die Differenz von Sensitivität und Spezifität betrifft) sind auch die direkten und indirekten Folgen der Sekundärprävention in Rechnung zu stellen. Sie reichen von falscher Gewissheit, neurotischer Angst, einer Kaskade invasiver Diagnostik bis hin zu nebenwirkungsreicher Präventivtherapie. Des Weiteren ist zu bedenken, in welchen Bereichen Früherkennung überhaupt therapierelevant ist.

Becker ist kein medizinfeindlicher Querulant. Sein Verdienst ist es vielmehr, einen materialreichen und differenziertenÜberblick über die fachlichen Kontroversen zum Thema Vorsorge zu bieten. Wenner dabei eine kritische Position bezieht, so doch nur auf Basis von fundierten Argumenten.

Ungesundes Sozialleben

Ein besonderes Anliegen ist Becker der soziale Aspekt von Vorsorge. Das ist nicht weiter verwunderlich, ist es doch unser Sozialleben, das uns gewiss nicht immer gesunden, wohl aber erkranken lassen kann. Hier plädiert der Autor dafür, Vorbeugung nicht nur, wie heute propagiert, durch individuelle Verhaltensänderung, sondern durch Änderung der Verhältnisse zu betreiben.

Im Gegensatz zu den finanziellen Anreizen, wie sie etwa verschiedene Krankenversicherungen bieten, wäre es sinnvoll, den krankmachenden Faktoren in unserer effizienzgetriebenen neuen Welt, in Arbeit, Freizeit, Ernährung und dergleichen, allgemein (und zugleich konkret) entgegenzutreten. Schließlich können erst entsprechende Lebensverhältnisse den Einzelnen in die Lage versetzen, eine für ihn intrinsisch bedeutsame, eine eigenwertige, Motivation zu entwickeln.

Erst diese Motivation vermag einen Lebensstil nachhaltig zu ändern. Nicht die individuelle Verhaltensarchitektur gilt es von außen (durch Verordnungen oder Anreize) zu bestimmen. Es geht um die gesellschaftliche Verhältnisarchitektur, die den Einzelnen ein (auch gesundheitlich) sinnvolles Leben ermöglichen kann. Das aber ist – nicht zuletzt – eine politische Frage. ■

Matthias Martin Becker

Mythos Vorbeugung

Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht. 224S., brosch., €17,90
(Promedia Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015)

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