Eine Houllebecq-Verteidigung: Europa schafft sich ab

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Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ ist keine geschmacklose Islam-Provokation,sondern eine beeindruckend kluge, traurige Abrechnung mit Europa. Eine Verteidigung.

Houellebecq muss einem leidtun. Sein sechster Roman, „Unterwerfung“ („Soumission“), hat diese Art der Aufmerksamkeit, die ihm in den vergangenen Tagen zuteil wurde, nicht verdient. Der Roman hat es nicht verdient, auf seinen Titel und ein Detail des Plots (ein Moslem wird im Jahr 2022 Präsident in Frankreich) reduziert zu werden, wie das die Pressemeldungen, die schon vor dem Erscheinungstermin lanciert wurden, getan haben. Er hat es nicht verdient, als gewaltauslösende, geschmacklose, gefährliche Provokation eines politisch Unzurechnungsfähigen ins Abseits gestellt zu werden, wie das selbst der französische Premierminister Manuel Valls nach dem Attentat auf „Charlie Hebdo“ getan hat („Frankreich, das ist nicht die Unterwerfung, Frankreich, das ist nicht Michel Houellebecq“).

Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ ist ein grandioser Roman, inhaltlich höchst relevant und literarisch einwandfrei konstruiert. Es ist weder ein Pro-Islam- noch ein Anti-Islam-Buch. Es ist eine Abrechnung mit Europa, Houellebecqs bitterste, schwärzeste Abrechnung. Europa schafft sich in „Unterwerfung“ selbst ab.

François, 44, der Ich-Erzähler des Romans, lehrt französische Literatur an der Sorbonne. Seine größte Leistung im Leben ist seine fast 800-seitige Dissertation über Joris-Karl Huysmans, den französischen Naturalisten, der zum Katholizismus konvertiert ist. Seither hat François nur noch ein paar Artikel in den einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, er führt ein eintöniges, unspektakuläres, einsames Leben. François ist das Ergebnis der konsolidierten europäischen Aufgeklärtheit: Das Ich ist endlich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit herausgeführt – und ist direkt in eine neue Hölle hineingerutscht: in die des grenzenlosen Narzissmus und Egoismus, aus der es nichts und niemand mehr befreien kann, weil alles Größere – Göttliche – als das Ich, das Halt und Orientierung geben könnte, dem sich das Ich – und da kommt der Titel ins Spiel – unterwerfen könnte, mausetot ist.

Ehrlich und politisch inkorrekt

Denn der Wunsch nach etwas Größerem als sich selbst ist dem Ich offensichtlich immanent, jedenfalls wirkt der metaphysisch obdachlose François im Roman wie ein höchst trauriges, jämmerliches, leeres Wesen. Natürlich ist François auch eine typische männliche Houellebecq-Figur, ein Ego- und Erotomane und furchtbar unglücklich in seiner Einsamkeit. So abschätzig er sich über Frauen äußern mag, ist er dennoch kein wirklicher Frauenfeind. Frauen, die im Roman auftreten, sind auch nicht François' Opfer, sondern wirken ebenso tough wie er. François ist in seinen Gedanken nur sehr ehrlich und politisch inkorrekt – aber das ist privatim wohl jeder Mensch. Aber er wirkt fast noch bestürzender als andere Houellebecq-Figuren: Er hat der Welt jetzt schon, mit 44, nichts mehr entgegenzuhalten, die Abgeklärtheit, mit der er über die anderen, mehr aber noch über sich selbst, spricht, ist erschütternd und überhaupt nur erträglich, weil immer wieder die wunderbare Houellebecq'sche Ironie durchkommt.

Die Liebe zu seinem literarischen Gefährten Huysmans, die Lektüre seiner Bücher ist im Grund das Einzige, was François rettet. Der Huysmans-Diskurs über Möglichkeit und Wesen der Literatur, der sich durch den gesamten Roman zieht, ist das einzig tröstliche Element der Geschichte und jener Erzählstrang, in dem Houellebecq selbst wohl nicht nur am deutlichsten spricht, sondern auch kunstvoll mehrfach Hinweise zur Deutung des eigenen Romans einstreut.

Trotz des höchsten Bildungsgrads und eines intellektuellen Berufs spielen für François geistige Dinge sonst keine Rolle. Als typisches Kind der Postmoderne reicht sein Interesse buchstäblich nicht mehr weiter als bis zum eigenen Bauchnabel (oder 15 Zentimeter darunter), seine Gedanken kreisen ausschließlich um die eigene körperliche Bedürfnisbefriedigung: Was soll ich essen (Sushi vom Caterer oder ein indisches Mikrowellengericht)? Wann kann ich wieder saufen (Bier mit Himbeergeschmack oder Birnengeist)? Wann darf ich wieder ficken (eine der Studentinnen oder ein Escort Girl)? Das sind seine drei kritischen Grundfragen; sein kategorischer Imperativ lautet: „Nach mir die Sintflut.“

Aber dann passiert bei Houellebecq das Schreckliche, und die Sintflut beginnt vor François' Tod über ihn und Frankreich hereinzubrechen: Es stehen Wahlen vor der Tür, und man hat Angst vor Gewalt, fürchtet den Front National. Tatsächlich kommt es zu ersten Tumulten in Paris, bald herrscht Bürgerkrieg. François' aktuelle Freundin, Myriam, eine Jüdin, flieht mit ihrer Familie aus Angst vor einem Rechtsruck nach Israel, und der gleichgültige François beginnt, sie tatsächlich zu vermissen. Er befolgt den Rat eines Kollegen und verlässt Paris (nachdem er sein Geld auf ein englisches Konto transferiert hat), fährt in den Wallfahrtsort Rocamadour, auf der Suche nach Trost. Aber auch die schwarze Madonna dort in der Kirche kann ihm nicht helfen, so sehr er sich selbst bereit fühlt, spirituell erleuchtet zu werden, es passiert einfach nichts.

Ben Abbes, der (völlig frei erfundene) Kandidat der Bruderschaft der Muslime, ist inzwischen zum Präsidenten gewählt worden, Le Pen ist damit verhindert. Mit den Parteien der Mitte bildet Abbes eine „Regierung der nationalen Einheit“. Miniröcke sind jetzt tabu, Frauen arbeiten so gut wie nicht mehr, und die Sorbonne gehört den Saudis (die Schulpflicht hört jetzt schon mit zwölf auf, alles andere danach ist Privatsache). Dafür ist Arbeitslosigkeit kein Thema mehr und es gibt keine offene Gewalt mehr auf den Straßen – Frankreich atmet auf.

Für François entpuppt sich der politische Umschwung am Ende als große Chance: Nach seiner Rückkehr nach Paris wirbt der neue Rektor heftig darum, dass er, die Huysmans-Koryphäe, weiterhin an der Sorbonne lehrt. Er müsse nur moslemische Lehren vertreten (etwa, dass Rimbaud höchstwahrscheinlich knapp vor seinem Tod zum Islam übergetreten sei). Tatsächlich konvertiert François am Ende sogar zum Islam, und es fällt ihm gar nicht schwer: Baklava schmeckt ihm hervorragend, mit dem Alkoholverbot nehmen es die Moslems, die er trifft, nicht so genau, und sexuelle Nöte wird er auch keine mehr haben, im Gegenteil, er kann gleich mehrere Ehefrauen haben, mindestens zwei: eine 15-Jährige fürs Bett und eine „Kochtopffrau“ um die 40.

Die Hinwendung zum Islam ergibt sich in „Unterwerfung“ also geradezu zwingend logisch für den Ich-Erzähler und – das ist das Originelle und Entscheidende – sie hat eigentlich nichts mit den tatsächlichen religiösen Inhalten zu tun. So wie Huysmans mit 44 seinerzeit katholisch wurde, weil die Frau, die er liebte, in der Nervenheilanstalt endete (so stellt es François im Roman dar), konvertiert er selbst mit 44, weil er dadurch seiner Einsamkeit zu entkommen hofft.

Der Islam bedeutet im Roman vor allem eine zweite Chance: auf Gemeinschaft, auf Familie. Diese wurde vom europäischen Projekt offensichtlich zerstört. Die Familie (in welcher Form auch immer) braucht es aber – und das nicht nur privat und psychologisch, sondern auch politisch beziehungsweise soziologisch: Familien sichern als „natürliche Grundeinheit“ den Fortbestand einer Gesellschaft. Houellebecq trifft mit seiner Vision also genau den Kern des europäischen Problems. Der Islam spielt dabei im Grund aber nur eine Nebenrolle. Abbes ist zwar Muslim, vor allem aber ist er ein begnadeter Staatsmann, ein außergewöhnliches politisches Talent. Dass er der Familie, der „Keimzelle der Gesellschaft“ durch diverse Fördermaßnahmen wieder „ihren gebührenden Platz“, „ihre Würde“ zurückgeben will, ist weniger religiös motiviert als vielmehr wirtschaftspolitisch.

Im Grund ist der Sieg des Islam also ein ganz pragmatischer und weniger ein religiöser. Der Islam ist im Buch zwar die einzige Religion, der sich François noch unterwerfen kann – weil sie lebensbejahender als das Christentum oder der Buddhismus sei, sonst ist dieser Sieg aber eher ein stellvertretender Sieg des Religiösen über das europäische Wertevakuum und die „Anmaßung“ des agnostischen Europas, das Ich als das Größte zu vergöttern und die Schöpfung als bloßen Zufall abzutun. Das sei letztlich – und dagegen kann faktisch nichts eingewandt werden– ja auch nur eine Behauptung.

Das eigentliche Verdienst von „Unterwerfung“ ist die Weite des Blickwinkels, die der geschichtliche, religiöse, philosophische, politische Diskurs des Romans, der bis ins Römische Reich zurückgeht, aufspannt. Vor einem derartig großen geschichtlichen Kontext wird schnell deutlich, wie blind Europa heute geworden ist, wie selbstherrlich es sich der Vorstellung hingibt, die Vollendung, das glorreiche Ende der Geschichte, zu sein.

Wenn sich „Unterwerfung“ gegen jemanden richtet, dann gegen dieses Europa, gegen den Ich-Erzähler François, der sich permanent selbst entlarvt. Wenn, dann ist „Unterwerfung“ letztlich eine vorgezogene Abrechnung mit der Generation der heute 30- bis 40-Jährigen (François wäre heute 36), die jetzt beginnt, gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen, deren bezeichnendste Attribute für Houellebecq aber leider nur Egoismus, Opportunismus und Geistlosigkeit sind. Literarisch könnte man gegen „Unterwerfung“ einwenden, der Roman sei holzschnittartig konstruiert, und es fehle an Psychologie, Figuren treten auf, weil sie eben gebraucht werden, um die Handlung voranzutreiben.

Es stimmt, dass vieles verknappt und, wenn man so will, nicht sorgfältig ausgeführt wird. Dahinter steckt aber kein Unvermögen des Autors, Houellebecq könnte anders, er hat es mehrfach bewiesen. Wie man Huysmans Romane laut François im Werkkontext sehen muss, muss man auch „Unterwerfung“ in Houellebecqs Gesamtwerk eingebettet betrachten. „Unterwerfung“ ist ja nicht sein erster Roman und auch nicht sein erster Roman über das untergehende Europa. Es ist der sechste. Darum ist er radikaler, brutaler, deutlicher, unerbittlicher, in seiner Endgültigkeit auch trauriger. An einer Endabrechnung ist nichts Schönes. Sie kann nicht opulent und farbenfroh sein, sie muss so reduziert und schwarz sein, wie sie hier eben ist.

Brillanz, Originalität, Intelligenz

Gegen das Genre der politischen Fiktion kann man auch nicht groß etwas einwenden. Sie verbieten zu wollen käme einem pauschalen Diskussionsverbot über Politik, Religion, Philosophie gleich. Natürlich braucht politische Fiktion, wenn sie ihre Wirkung entfalten soll, ein gewisses Maß an Zuspitzung, gleichzeitig kann sie sich auch nicht zu weit von der Realität entfernen, sonst wird sie lahm und geht ins Leere. Houellebecq gelingt diese sensible Gratwanderung in „Unterwerfung“ perfekt. So zynisch es klingt, die Ereignisse der vorigen Woche lassen Houellebecqs Zuspitzung im Roman ohnehin geradezu harmlos aussehen. Nein, man muss die Brillanz, die Originalität, die Intelligenz, die Präzision von Houellebecqs Szenario in „Unterwerfung“ faktisch anerkennen.

„Unterwerfung“ hätte alles gehabt, um als Roman, allein durch die Kraft des Textes, eine breite gesellschaftliche Diskussion zu evozieren. Und diese braucht es dringend. Eine Provokation zur Gewalt ist das Buch dagegen sicher nicht. Es ist also nichts als eine böse Ironie der Geschichte, dass es trotzdem zum Mitauslöser für so viel schreckliche Gewalt geworden ist. Michel Houellebecq kann dafür jedenfalls nichts. Er hat alles richtig gemacht. ■

Michel Houellebecq

Unterwerfung

Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. 280 S., geb., €23,60 (DuMont Buchverlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2015)

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