Als hätte der Tod einen Schlüssel

In seinem Debütroman bemüht sich der junge israelische Autor Ron Segal, für das Grauen der Shoah und die Erinnerung daran eine neue literarische Darstellungsform zu finden. Es bleibt beim Versuch.

Wie gehen jüngere Autoren, jene, die schon der zweiten oder dritten Nachkriegsgeneration angehören, mit dem Thema Shoah um? Dies ist heute, da es immer weniger Zeitzeugen gibt,die Ereignisse vor 70 Jahren aber weiterhin historisch prägend bleiben, eine wichtige und spannende Frage.

Der israelische Autor Ron Segal (Jahrgang 1980) hat sich in seinem Debütroman, „Jeder Tag wie heute“, mit der Shoah und der Zeit danach auseinandergesetzt. Der seit 2009 meist in Berlin lebende Ron Segal hat an der Sam Spiegel Film and Television School Jerusalem studiert. Sein Abschlussfilm wurde auf vielen internationalen Festivals gezeigt, das von ihm verfasste Drehbuch vom Goethe-Institut ausgezeichnet.

Die künstlerische Verortung des Autors im Medium Film und sein Talent als Drehbuchautor sind dem Roman anzumerken. Die Plastizität mancher Szenen, das Arrangement der Motive und der Einsatz von Pointen sind eher dem filmischen als dem erzählerischen Genre zuzuordnen, was sich hier nicht immer als Vorteil erweist, weil das Buch aus der Perspektive eines 90-jährigen Shoah-Überlebenden geschrieben ist, dessen beginnende Alzheimer-Erkrankung und der damit verbundene Gedächtnisverlust zu einer verzerrten, oft surrealen Wahrnehmung von Zeit und Raum, Vergangenheit und Gegenwart führen. Dafür brauchte man wohl eine andere Sprache und nicht jene vordergründige, allzu plakative Metaphorik (die in einem Film durchaus funktionieren könnte), mit der Ron Segal seinen Roman angereichert hat.

Adam Schumacher, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, ein berühmter israelischer Autor, der die Shoah als Jugendlicher überlebt hat, reist Jahrzehnte nach dem Krieg das erste Mal wieder nach Deutschland. Er will seine Lebensgeschichte und die seiner Frau aufschreiben, bevor er sie aufgrund seiner Krankheit ganz vergessen hat. Doch seine Erinnerungen entgleiten ihm, vermischen sich mit Fantasien und gelesenen Berichten, mit Legenden, Albträumen und Erzählungen von Freunden. Doktor Witkin, Adam Schumachers Arzt in München, meint, „dass der Schriftsteller auch ein ziemlicher Autodidakt zum Thema Holocaustist... Wissen Sie, auch ich lese gelegentlich ein gutes Sachbuch darüber oder informiere mich zusätzlich im Internet.“

Ob das, woran Adam Schumacher sich erinnert, glaubwürdig ist oder nicht, mag dahingestellt sein. Die Realität ist oft aberwitziger als jede Erfindung. Dass der Vater des Protagonisten im Wien des beginnenden 20.Jahrhunderts dem gescheiterten Kunstmaler Adolf Hitler begegnet ist, dass Adams Frau, Bella, einen SS-Mann, der sie zuerst gerettet, sich dann aber von ihr abgewandt und den Tod ihrer Schwester mitverschuldet hat, mit der Saite einer Harfe erdrosselt hat, oder dass Bella als KZ-Überlebende kurz nach dem Krieg ausgerechnet von einem jungen Priester namens Karol Wojtyła, dem späteren Papst Johannes Paul II., auf dem Rücken getragen wurde, weil sie selbst, dem Tode nahe, nicht mehr gehen konnte, wirkt etwas zu dick aufgetragen.

Als ob das nicht genügte, ist der Held zusammen mit zwei anderen jüdischen Waisenkindern, Eva und Max, in einem Nonnenkloster (sic!) aufgewachsen. Die Nonnen „erzählten jeder neuen Klosterschwester die Geschichte des verlassenen Babys, um deren Barmherzigkeit und unterdrückten Mutterinstinkt zu wecken; und den älteren Schwestern, die schon lahm in den Lenden waren und kaum mehr Mutterinstinkt in sich hatten, erzählten sie, der kleine Max sei Jude.“

Tatwaffe: Buch des Autors

Max und Eva überleben ebenfalls den Krieg. Eva wird Adams Redakteurin, Max sein Verleger. Bellas und Adams einziges Kind kommt, „weiß wie Schnee und völlig tot“, zur Welt. „Man sagt, wenn der Tod zu dir nach Hause kommt, dann kehrt er wieder, als hätte er einen Schlüssel“, erklärt Adam. Bella wird einige Jahre später in ihrer Jerusalemer Wohnung von einem unbekannten Täter erschlagen, und zwar ausgerechnet mit einem von Adams Büchern. Adam selbst ist zu diesem Zeitpunkt außer Haus, um gerade über dieses Buch ein Referat zu halten, „statt daheim den Schatten davon abzuhalten, Bella ebendieses Buch auf den Kopf zu schlagen“.

Diese Szene ist, wie die meisten anderen des Romans, symbolisch aufgeladen und ironisch gebrochen, sie ist surreal und wird doch realistisch, manchmal schnoddrig, angereichert durch Bonmots, Aphorismen sowie allgemeine Behauptungen über das Leben an sich mit einem bitteren und sarkastischen Unterton erzählt. Dasselbe gilt für die nicht minder metaphorisch zu verstehende Rahmenhandlung, in der der Ich-Erzähler in der Schweiz einen Mann namens Hugo Schwarz aufsucht, dessen Verein Natural Resort legale Sterbehilfe anbietet („Die Endlösung à la Schweiz“, wie es heißt), bevor er zu Max nach München weiterreist, um sein Erinnerungsbuch zu schreiben, dort nach einem Schlaganfall in einem Krankenhaus landet und schließlich, schon im Rollstuhl sitzend, die KZ-Gedenkstätte Dachau besucht. „Ich habe meine Jugend gegen das Alter getauscht und nichts dafür erhalten“, heißt es gegen Ende des Romans. „Das Alter sieht man nicht im Spiegel, man sieht es in den Bildern.“

Diese bedeutungsschweren Sätze mögen jemandem weise, einem anderen wiederum schlichtweg unsinnig erscheinen. Vielleicht ist ja gerade dies die Intention des Autors? Wenn allerdings etwa ein Drittel des Buches aus Sätzen dieser Art besteht („Dem Schriftsteller, der 20 Jahre lang denselben Albtraum geträumt hatte, war nur noch eine Idee verblieben: der Traum selbst“), und der Rest aus einer Unzahl von symbolträchtigen Geschichten, deren Verknüpfungen und Querverweise auf eine ironische Dekonstruktion gerade dieser Symbolik hinweisen, stellt sich beim Leser ob so viel „Raffinesse“ nicht nur Verwirrung, sondern auch Langeweile ein, zumal dies alles auf nur 140 Seiten verdichtet und ineinandergeschoben wird.

Kitsch und Sarkasmus helfen dem 90-jährigen Ich-Erzähler dabei, mit dem Verlust seines Gedächtnisses sowie dem Grauen des (noch) Erinnerten umzugehen. Das ist wohl stimmig, macht den Helden aber keineswegs zu einer interessanten Romanfigur, weil der Mensch Adam Schumacher dabei wortreich verloren geht. Er bleibt eine papierene Konstruktion, nicht einmal ein Typus. Dies ist der größte Vorwurf, der Ron Segal zu machen ist. Er hat offenbar zu viel gewollt und dadurch wenig erreicht.

Sein Roman ist sprachlich gediegen und bietet zweifellos Stoff für literaturwissenschaftliche Abhandlungen, aber er vermag nur selten zu berühren oder gar zu fesseln. „Segal versucht, ein Amalgam zu finden, das ein literarisches Sprechen über den Holocaustfür jemanden ,zwei Generationen danach‘ möglich macht“ steht im Klappentext. Richtig: Es ist ein Versuch. Aber nicht mehr. ■

Ron Segal

Jeder Tag wie heute

Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. 140 S., geb., € 18,40 (Wallstein Verlag, Göttingen)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2015)

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