Polizist sucht Kappe

Ein Philosophieprofessor und eine gepiercte Jugendliche spielen einem Jungautor eine Komödie vor. Man kann das als Schlüsselroman über die Wiener Kulturszene lesen; muss man aber nicht. Richard Schuberths satirischer Debütroman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“.

In seinem „jüdischen Western“ „Weisman und Rotgesicht“ lässt George Tabori den Indianer sagen: „Kratz lang genug an 'nem Weißen, und ein Faschist kommt zum Vorschein.“ Worauf der Jude erwidert: „Dann hör auf zu kratzen.“ Die längere, ernste Variante dieser witzigen Formulierung lautet so: „Wer aus den Leuten das Evidente rauskitzelt, ihre Gemeinheit im schlimmsten und ihre Dummheit im besten Fall, der genießt den eigenen Aufdeckererfolg und schmarotzt somit am Schrecken.“ Sie stammt von Richard Schuberth und steht auf Seite 301 seines Romans mit dem schönen Titel „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“.

Richard Schuberth ist ein Stilist. Stilisten wandeln auf einem schmalen Grat, stets in Gefahr, in den Abgrund eitler Manierismen, verunglückter Bilder und unfreiwillig komischer Stilblüten abzustürzen. Einige Mitarbeiter des „Standard“ liefern dafür – mit einem Wort aus Schuberths Roman: für „eine wichtigmacherische Caprice, die beweise, wie verliebt der Autor in seine schiefen Metaphern sei“ – fast täglich Beweise. Auch Schuberth schreibt – unter anderem – für den „Standard“. Aber seine stilistischen Anstrengungen werden durch treffliche Formulierungen, durch erhellende und witzige Entscheidungen in der Syntax und der Wortwahl belohnt und von linguistischer Selbstreflexion begleitet. Da werden keine Locken auf einer Glatze gedreht, sondern kluge, manchmal kontroverse Gedanken in eine sprachliche Form gebracht, die Literatur – auch im Journalismus – erst zu Literatur macht.

Mit der hochliterarischen Erzählersprache kontrastiert die Jugendsprache, dieSchuberth ebenfalls bis ins Detail beherrscht. Auch das kann ins Auge gehen. Die Nachahmung von Jargon, von Gruppensprachen und Soziolekten wirkt schnell übertrieben und gerät zu schlechtem Kabarett. Hier aber erfüllt die imitierte Sprachverwendung eine Funktion. Denn dem fast 70-jährigen Juden und Exhochschulprofessor der Philosophie Ernst oder auch Ernö Katz steht – oder sitzt vielmehr, in einem Zug auf der Westbahnstrecke – die sehr junge gepiercte Biggy gegenüber. Zwischen diesen beiden so ungleichen Personen entspinnt sich die Geschichte, die Schuberth auf fast 500 Seiten erzählt, die „fröhliche Verschwörung“, deren Chronik der Titel des Romans – des ersten dieses Autors von Dramen, Essays und Aphorismen in kleineren Verlagen – verspricht.

Die eher unwahrscheinliche Konstellation ist ein erzähltechnischer Trick, der es dem Autor erlaubt, Positionen aufeinandertreffen zu lassen, die im „wirklichen“ Leben voneinander isoliert sind, und zugleich angeblich unvermeidbare Gegensätze oder verbindliche Übereinstimmungen infrage zu stellen. Ein wenig erinnert die Konstruktion an Maria Speths Film „Töchter“, mit dem Unterschied, dass die ältere Generation von einem Mann und nicht von einer Frau repräsentiert wird.

Neben dem zentralen Paar gibt es noch den Jungautor René Mackensen, der einen Holocaust-Roman zu schreiben beabsichtigt. Ernst Katz versucht, ihn um jeden Preis zu verhindern. Denn Mackensen will darin eine (innerhalb der Fiktion) reale Person, die Dichterin, Philosophin und Germanistin Klara Sonnenschein, eine Studienkollegin Ingeborg Bachmanns, deren Aphorismen und Verse den einzelnen Kapiteln des Romans von Schuberth vorangestellt sind, verwursten.

Die Fähigkeit, die Trauer zu teilen

Katz hat Klara gekannt und geliebt und fühlt sich ihr verpflichtet. (Dass Klara Sonnenschein in einem Brief an Katz nur beweist, wie wenig sie sowohl Bob Dylans „Blowin' in the Wind“ als auch Pete Seegers „Sag mir, wo die Blumen sind“ verstanden hat, wenn sie einem israelischen Publikum nicht zutraut, die Trauer über gefallene Soldaten zu teilen, von denen zudem keineswegs gesagt ist, dass sie „Täter“ waren – Pete Seeger hat in Spanien gegen die Faschisten gekämpft –, das sei am Rand vermerkt.)

In einem langen Monolog erklärt Ernst Katz, was er gegen das Holocaust-Projekt hat. Was Schuberth da in indirekter Rede an Grundsätzlichem formuliert, ist, falls es nicht seine eigene Position wiedergibt, zumindest gut nachempfunden. „Wie könne man so schäbig und dumm sein zu glauben, der schrecklichen Realität mit ästhetischem Realismus beizukommen.“ Und: „Es sei die Heuchelei, die ihn wütend mache, mit der sich jeder dahergelaufene Schmierfink und Szenefilmer in diesem Geschichtsmuseum des Schreckens bedienen dürfe.“ Schon immer hätte er einem „dieser linken Idioten“ „am liebsten eine in die Goschen gehaut“, die „mit dem lachhaften Imitat eines Jiddisch, dem kein Jiddischsprachiger mehr widersprechen konnte“, jüdische Witze erzählten. Das kann ich verstehen. Allerdings waren die Idioten, auf die diese Beschreibung zutrifft und denen ich begegnet bin, in den seltensten Fällen Linke.

Mit seiner Abneigung gegen Nichtjuden, die sich als Juden gerieren, ist Katz (Was hätte er von den Millionen Widerstandskämpfern auf den Straßen und im Internet gehalten, die Charlie sein wollen?) bei Mackensen an der falschen Adresse. Dieser hat nämlich gerade seine allerdings gut verborgenen jüdischen Wurzeln entdeckt. Diesem Mackensen spielen Katz und Biggy eine Komödie vor, und sie ist wirklich komisch, zumal der Leser die Perspektive der Verschwörer, nicht die des Opfers teilt.

Literarische Anspielungen sind unaufdringlich eingestreut. Biggy führt Katz durch eine U-Bahn wie Vergil Dante durch die Unterwelt. Sie demonstriert ihm den Untertanengeist der autoritären Persönlichkeit am Beispiel der Passagiere, die sich dafür entschuldigen, dass sie, Biggy, sie anrempelt. Dann stoßen sie auf eine Gruppe türkischer Jugendlicher, mit denen Katz sich, die Vorurteile des Lesers düpierend, glänzend versteht.

Richard Schuberth kennt die Wiener Szene. Wer will, mag hinter den zahlreichen Nebenfiguren mehr oder weniger bekannte und bedeutende Repräsentanten des Kulturlebens entdecken, man kann es aber auch bleiben lassen. Manchmal, etwa bei der Zeichnung des Kritikers Alfred Rothenstein, flüchtet sich Schuberth in Satire. Manchmal übertreibt er es auch mit der Parodie – etwa eines Skype-Chats. Da schlägt die Bewunderung für seine Virtuosität in Verdrossenheit um, weil so viel modischer Schwachsinn auch als Nachahmung kaum erträglich ist. Dem Literaturbetrieb begegnet Schuberth mit erkennbarem Widerwillen. In einem Kapitel legt er seinem Ernst Katz eine Suada gegen diverse Typen von Literaturkritikern (wir gehen nicht in diese Falle) und so ziemlich die gesamte deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den Mund. Klar, das ist Rollenprosa und doch wiederum nicht. Die größte Wut packt ihn, als Biggy ihn mit Thomas Bernhard vergleicht, und er ahnt wohl nicht, wie sehr er ihm in seiner Philippika tatsächlich ähnelt.

An mehreren Stellen nennt der Autor auch andere reale Namen von Victor Kraft und Adorno über Steven Spielberg bis Peter Sloterdijk, Natascha Kampusch und sogar H.-C. Strache. Aber er verzichtet weitgehend auf jenes Lokalkolorit, das in der österreichischen Literatur der vergangenen Jahre etwas inflationär mit folkloristischer Vertrautheit kokettiert und in Wahrheit nur einen Mangel an Welthaltigkeit verrät. Nicht jede Erwähnung des Naschmarkts oder des Donaukanals macht Wien schon zum Pendant des Dublin von James Joyce oder des Berlin von Alfred Döblin.

Der Standardkritik, dass der Roman ein paar Kürzungen vertragen hätte, würde man gern entsagen. Aber hier drängt sich doch wiederholt der Eindruck auf, dass der Autor die eine oder andere Glosse, die in der Schreibtischschublade oder im Computer geruht hat, auch noch einbauen wollte. Die Exkurse etwa über Max, einen „der größten lebenden Spezialisten für Lukács und Gramsci“, der sich zudem in Neuer Musik auskennt wie kein anderer (Abteilung Ernst Katz), versus Hubsi Grottenbach und die Oaschpartie, sie sich auf moderne Wienerlieder im Rockgewand spezialisiert haben (Abteilung Biggy), wirken etwas angestrengt und bringen den Roman nicht wirklich voran. Der Aufmerksamkeit des Lesers nützt das nicht unbedingt. Aber verstehen kann man es schon. Man will eben nichts verkommen lassen.

Würde Ernst Katz Romane schreiben, wären die Figuren „dort bloß Butler, die den Gedanken Cocktails ans Bett tragen oder dem Gedanken des Hauses das Kommen anderer Gedanken ankündigen“. Ist das nun Selbstironie? Die erste Hälfte des Romans, bis zur Intrige gegen Mackensen, die diesen nach Belgrad führt, entspricht der Beschreibung. Niemand, meint Katz, würde solche Romane gut finden, „abgesehen vielleicht von ein paar vergeistigten 24-Jährigen, die sich für anders als die anderen halten“. Ich muss 24 sein. Wer hätte das gedacht?

Von Belgrad wird Mackensen nach Tel Aviv gelockt, wo er vorerst nur englische Gespräche führt. Nichts für Leser ohne Fremdsprachenkenntnisse also. Und spätestens hier nimmt das Buch eine Wendung. Es wird vorübergehend zu einem Abenteuerroman mit mystischem und skurrilem Einschlag. Ich verliere meine Vergeistigung, bin wieder weit mehr als 24 und finde auch das gut. Denn Schuberth beherrscht auch dieses Genre.

Im dritten, dem kürzesten Teil des Romans nimmt dieser wiederum eine unerwartete Wendung. Die Tür steht offen für ein komisches oder für ein melodramatisches Ende. Da präsentiert der Autor dem Leser doch noch den Roman der Klara Sonnenschein: in Form der Briefe, die diese vor ihrem Selbstmord an Ernst Katz geschrieben und die Biggy in einer verschlossenen Schatulle entdeckt hat. Und wiederum mischt Schuberth eine subtile Liebesgeschichte mit philosophischen und politischen Ausführungen, die sich im letzten Brief über zwölf Druckseiten zu einem Essay ausweiten.

Brand von apokalyptischem Ausmaß

Dreimal darf Klara Sonnenschein noch auftreten. Zuerst erscheint sie Ernst Katz, der nun seinerseits einen erfolglosen Selbstmordversuch unternommen hat, und sie bewährt sich als Prophetin: „Die Krise wird zehn Jahre vor sich hin glosen und dann in einem Brand von apokalyptischen Ausmaßen alles in jene fruchtbare Asche verwandeln, aus der die bessere Ordnung sprießen könnte, die wir uns immer gewünscht haben.“

Dann erscheint Klara dem Gegenspieler René Mackensen, und hier, kurz vor dem Ende, werden wir an jenes Motiv erinnert, das am Anfang des Romans gestanden ist und das wir fast aus den Augen verloren haben, wenn Mackensen eine Erektion bekommt, als er die KZ-Nummer auf Klaras Unterarm sieht. Es ist eine aberwitzige, eine makabre Szenerie, die Schuberth hier entwirft, dem Surrealismus nahe und doch ganz nah an dem Thema, das ihn umtreibt.

Zuletzt meldet sich Klara Sonnenschein bei Biggy. Die beiden plaudern miteinander, kommentieren Schaufenster und Mode und Menschen, reden über Ernst Katz und über die Liebe, und Klara überkommt die Lust, einem Bullen das Kappel wegzunehmen, wie einst als Kind einem Heimwehrler. Das Kapitel endet so: „Dann war sie weg. Das Letzte, was an Klara erinnerte, war ein wütender Verkehrspolizist, der seine Kappe suchte.“

Was für ein Schluss! Leider hängt Schubert als Epilog noch eine Satire auf den österreichischen Kulturbetrieb im Stil der „Kronen Zeitung“ an. Damit fällt er unter das Niveau, das er zuvor so tapfer gehalten hat. Schade. Er hätte einen besseren Berater als René Mackensen verdient. ■

Richard Schuberth

Chronik einer fröhlichen Verschwörung

Roman. 480 S., geb., €23,60 (Zsolnay

Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2015)

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