Von Walther bis Bernhard

Österreich wird als Territorium zwar nie ausdrücklich definiert, doch bezieht der Herausgeber der „Literaturgeschichte Österreichs“, Herbert Zeman, den deutschsprachigen Teil der Donaumonarchie ein. Eine fesselnde Lektüre für Literaturfreunde.

Diese zweite, überarbeitete und aktualisierte Ausgabe ist eigentlich ein neues Buch und kannmit viel mehr Recht als die erste Auflage von 1996 den Anspruch erheben, das aktuelle Standardwerk zur Literaturgeschichte Österreichs zu sein.

Der Herausgeber, Herbert Zeman, hat dieses Mal vereinheitlichend eingegriffen und vor allem zwei mittelmäßige Beiträge der ersten Auflage durch gute ersetzt; die meisten Fehler der Auflage von 1996 sind verschwunden. Dass etwa ein Drittel mehr Raumzur Verfügung steht, kommt dem Buch ebenfalls zugute – obwohl manche Beiträger der Versuchung erlegen sind, ihre damals exemplarische Darstellung in Richtung des Enzyklopädischen auszuweiten (was aber auch seine Vorzüge hat). Insgesamt hat Zeman – von dem etwa ein Drittel des Buches stammt – acht profilierte Fachleute als Mitarbeiter gewonnen, darunter Werner M. Bauer, Dieter Breuer, Erich Trunz (†) und Alois Wolf (bei dem ich in einem unvergesslichen Proseminar Mittelhochdeutsch gelernt habe). Der Schwerpunkt dieser Literaturgeschichte liegt auf den früheren Perioden; die Darstellung der Literatur Österreichs seit 1945 nimmt kaum mehr als zehn Prozent des Bandes ein.

Zwar wird „Österreich“ nie ausdrücklich definiert, doch beziehen die Verfasser den ganzen deutschsprachigen Teil der Donaumonarchie ein, zum Teil über die zeitliche Grenze von 1918 hinaus. Die umfangreichen Abschnitte behandeln historische Epochen („Die österreichische Literatur im 17. Jahrhundert“, „Die österreichische Literatur im Zeitalter Maria Theresias und Josephs II.“), nicht Strömungen, was wenig aussagekräftige Etikettierungen vermeiden hilft. Die Schwerpunkte liegen auf den literaturgeschichtlichen Zusammenhängen und weniger auf einzelnen Autoren oder gar einzelnen Werken. So kommt Grillparzers „Traum ein Leben“ zuerst als Beispiel für die Geisteshaltung der Epoche vor – neben dem zu Recht ausführlich vorgestellten Raimund –; Grillparzers Gesamtwerk wird erst an späterer Stelle gewürdigt. Dabei wird der geistesgeschichtliche Ort mehr beachtet als die künstlerische Leistung. (Anders gehen die Abschnitte über das Mittelalter vor.)

Unter diesem Aspekt kommen auch wenig bekannte Gestalten aus der Literaturgeschichte relativ ausführlich vor, eben weil sie für die Entwicklung der Literatur in Österreich von Bedeutung sind, obwohl sie niemand mehr lesen mag (etwa die katholischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Sie gehören jedoch zum literarischen Geflecht, aus dem die Großen hervorragen. Könnte man trotzdem einige Namen entbehren? Ob man angesichts schwankender Grenzen und unklarer Biografien der Autorenim Mittelalter, für das man – wie Alois Wolf es tut – besser vom Südosten des Sprachraums spricht als von Österreich, gut daran tut, die Literaturgeschichte Österreichs schonum 1100 beginnen zu lassen, oder ob man Literatur erst ab dem 17.Jahrhundert dem Gebilde Österreich zuordnen sollte, ist ein Problem, andererseits erwartet jeder Leser einer Literaturgeschichte Österreichs die Behandlung Walthers, des „Meier Helmbrecht“ und so weiter, in der Tat frühe Höhepunkte unserer Literatur.

Den aus sachlichen Gründen eher kargen Kapiteln über die lateinische Literatur des Mittelalters steht leider – die einzige Lücke des Bandes – keines über die neulateinische Literatur nach dem Humanismus gegenüber, sodass insbesondere das Jesuitendrama zu kurz kommt. Von anderen Darstellungen der Literaturgeschichte Österreichs hebt sich diese dadurch angenehm ab, dass sie zwar Sonderentwicklungen darstellt, aber nicht im Sinn einer patriotischen Pflicht, die nationale Besonderheit Österreichs im Bereich der Literatur zu beweisen.

Unterschiede zwischen der deutschenDichtung insgesamt und der Literatur in Österreich werden trotzdem sichtbar, doch ist auch von den nicht gerade nebensächlichen Gemeinsamkeiten, etwa den Nachwirkungen Weimars in Wien, die Rede. Besonders aufschlussreich ist da Wynfrid Kriegleders Beitrag über die Romantik in Wien, speziell über die deutschen Romantiker, die nach Wien gezogen sind. Immerhin hat Jacob Minor in einem bezeichnenden Vergleich Marie von Ebner-Eschenbach 1900 nicht so sehr als österreichische Autorin gewürdigt, sondern betont, sie sei „nach dem Tode Fontanes der einzige Schriftsteller [!] der älteren Generation“, „der sich bei Alt und Jung der gleichen Anerkennung erfreut“.

Ausführlich wird die – prägende – Rezeption der italienischen und der französischen Literatur in Österreich dargestellt. Bis zu einem gewissen Grad kann man von einem komparatistischen Ansatz sprechen, der die Literatur Österreichs in ihren europäischen Zusammenhang einbettet. Erfreulich, dass auf den Mythos vom spanischen Geist in ihr verzichtet wird. Die Literatur in den anderen Sprachen des habsburgischen Staats kommt als besonderer Hintergrund für die Werke der auf Deutsch Schreibenden in Österreich vor, etwa unter dem Gesichtspunkt der Ausstrahlung der Literatur aus Wien. Literatursoziologische Aspekte werden einbezogen.

Zemans persönlichen Vorlieben sind die häufigen Ausblicke auf die Musik, besonders auf das Musiktheater, zu danken, die das Buch eindeutig bereichern. Der Blick auf die eher trivialen Libretti der Operetten um 1900 erhellt auch die kanonisierten Werke dieser Jahre. Ein Buch mit einer solchen Fülle von Namen und Titeln kann nicht fehlerfrei sein; es wäre kleinlich, jetzt mit eigenem Wissen zu prunken und eine (eher kurze) Fehlerliste vorzulegen – hätte man doch selbst zwar andere, aber nicht weniger gemacht. Ebenso wenig lasse ich mich darauf ein, dem Werk das Vorkommen des einen (vielleicht unwichtigen) und das Fehlen des anderen (vielleicht wichtigen) Namens vorzuwerfen.

Obwohl das Buch auch dem Wissenschaftler viel Neues bietet – am meisten vielleicht im Barock-Kapitel, das zu Entdeckungen einlädt –, ist es doch für jeden an Literatur wie an Österreich Interessierten zugänglich, da die Beiträge auf Fachsprache und erst recht auf Fachjargon verzichten. Eine fesselnde Lektüre für alle Literaturfreunde. ■

Herbert Zeman (Hrsg.)

Literaturgeschichte Österreichs
Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart. 2. Aufl., 864 S., geb., € 100,80
(Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.