Der Bohemien auf dem Hradschin

Der Pressesprecher von Václav Havel, Michael Žantovský, hat kein Heldenepos über den ehemaligen tschechoslowakischenPräsidenten geschrieben, sondern eine Biografie, die Sonn- und Schattenseiten so wahrheitsgetreu wie möglich widerspiegelt.

Der Schriftsteller und Bürgerrechtler-Literat Jiří Gruša, viele Jahre als tschechischer Botschafter, dann als Direktor der Diplomatischen Akademie in der Bundeshauptstadt tätig, erzählte vor einem Tod 2011 einmal die Geschichte, wie er mit Václav Havel in ein Wiener Restaurant abendessen ging. Als die anwesenden Gäste Havel, damals schon Expräsident, erkannten, seien sie der Reihe nach von ihren Tischen aufgestanden und hätten angefangen zu klatschen. Man kann sich gut vorstellen, wie der stets höfliche Havel sich artig verbeugte und seinen Verehrern bedeutete, sich doch wieder ihren Speisen zu widmen. Was man sich weniger vorstellen kann, ist, dass ein heutiger österreichischer Politiker in einem Restaurant einmal auf diese Weise begrüßt würde. Allerdings kann man vermuten, dass die spontane Huldigung des Wiener Publikums weniger dem Politiker, sondern eher dem Theatermann, Literaten, Intellektuellen und Bürgerrechtler Havel gegolten hat.

Václav Havel war eine tschechische, ja eine (mittel-)europäische Lichtgestalt. Dieses Urteil gilt umso mehr, wenn man sich seine Nachfolger auf dem Hradschin vor Augen führt: zuerst Václav Klaus, der fleischgewordene Prager Griesgram; jetzt Miloš Zeman, dem der Becherovka-Konsum gar nichtguttun dürfte, wie sich häufende Berichte über rüde Ausfälligkeiten zeigen. Auch Havel war, wie Michael Žantovský in seiner Biografie schreibt, ganz und gar kein Feind des Alkohols, sondern sein Leben lang ein Fan der einzigartigen Prager Bier- und Weinstuben. Skandalöse Auftritte aber, wie sie Zeman immer häufiger abliefert, sind von Havel nicht überliefert.

Žantovský, in den ersten beiden Jahren, in denen Havel tschechoslowakischer Präsident war, dessen Pressesprecher, danach Botschafter in den USA, Israel und Großbritannien, hat seine Biografie in englischer Sprache verfasst, sie richtet sich wohl vornehmlich an eine angloamerikanische Leserschaft. Havels Ausstrahlung in die Nachbarländer der früheren Tschechoslowakei kommt in diesem Buch deshalb zu kurz. Gerade auch nach Österreich, wo in den 1970er- und 1980er-Jahren Havel-Stücke am Burg- und Akademietheater uraufgeführt und jahrelang gespielt wurden und wo seinem Werk höchste Anerkennung gezollt wurde.

Keine Frage, Žantovský kannte Havel wirklich gut, seine Stärken ebenso wie seine Schwächen. Havel war ein bescheidener, höflicher, freundlicher, humorvoller, scharfsinniger, geradliniger Mensch. Aber er war auch sein Leben lang unsicher, ängstlich, ein Zweifler; gleichzeitig konnte er ein arroganter Intellektueller sein, dünnhäutig gegenüber Kritik, gerade in seinen letzten Lebensjahren. „Er war eben ein unvollkommener Mensch wie wir alle“, schreibt Žantovský. Ob zu einer solchen Lebensbeschreibung auch der Bericht gehört, bei welcher Geliebten sich Havel in der Nacht vor seiner Verhaftung 1979 aufgehalten hat, ist fraglich. Der Hinweis im Prolog, dass sich Havel wiederholt zu unüberlegten sexuellen Abenteuern habe hinreißen lassen, hätte genügt, um auch diese Seite abzudecken.

Dennoch, dass Žantovský kein Heldenepos verfasst hat, sondern Sonnen- und Schattenseiten von Havels Leben so wahrheitsgetreu wie möglich zu beschreiben versucht, ist zu würdigen. Dazu kommt, dass es ihm sehr gut gelingt, den Zeitgeist, das gesellschaftliche Umfeld zu beschreiben, in dem sich der Literat und Bürgerrechtler Havel entwickelt hat. Gerade das Kapitel über den Aufbruch in den 1960er-Jahren im tschechoslowakischen Kulturleben ist faszinierend.

Ebenso fällt die Interpretation der dramatischen Ereignisse von 1968 ausgewogen und klug aus. Ein paar Tage nach der Niederschlagung des Prager Frühlings schrieb Havel in einem Handbuch, wie sich die Bevölkerung gegenüber den Invasoren verhalten sollte: „Verwenden Sie gegen den Feind alle Methoden, mit denen er nicht rechnet. Zeigen Sie ihm gegenüber keinerlei Verständnis, machen Sie ihn lächerlich und verdeutlichen Sie ihm die Absurdität seiner Lage.“ Das sind eigentlich die ewigen Gebote des gewaltlosen Widerstands gegen einen übermächtigen Gegner. Und noch so ein Merksatz Havels für kleine Völker: „Unser Schicksal hängt von uns selbst ab. Die Welt besteht nicht aus dummen Supermächten, die alles tun dürfen, und schlauen kleinen Nationen, die nichts tun können.“

Žantovský geht alles durch – Gefängnis, Charta 77, wieder Gefängnis, Aufstieg zur Führungsfigur der Samtenen Revolution 1989, Präsidentschaft; die Trennung der Tschechoslowakei („eine katastrophale politische Niederlage“), Havels lange Krankheitsgeschichte. Er schildert auch Entstehung undAblauf der vielen Theatererfolge und der wichtigsten Publikationen – gelegentlich geschieht das etwas gar langatmig.

Auch wenn sich Havel selbst im Präsidentenamt als Antipolitiker sah, er immer ein gehöriges Maß an Misstrauen gegen alles Politische hegte, durchschaute er andere politische Akteure sehr genau. Zum Beispiel Wladimir Putin: „Putin war ein Tschekist, ein KGB-Offizier, die Art von Mensch, die Havel und seine Gesinnungsgenossen jahrelang zu erkennen und zu überlisten gelernt hatten.“ Havel sah in der Putin-Ära „einen neuen Typ von Diktatur entstehen, die wegen ihrer unauffälligen Maske besonders gefährlich ist. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie die schlimmsten Eigenschaften von Kommunismus und Kapitalismus in sich vereint.“

Detailliert schildert Žantovský auch, wie es Havel und sein polnischer Kollege Lech Wałęsa gemeinsam zustande gebracht haben, den Widerstand des außenpolitischen Establishments in Washington gegen eine Nato-Osterweiterung zu brechen (dieses war besorgt, dass dieser Schritt die US-Beziehungen zu Russland beeinträchtigen könnte). „Havel und Wałęsa waren zweifellos die treibenden Kräfte eines Beitritts zur Nato.“

Was im Ausland wohl nie so registriert wurde, war die Bösartigkeit, ja der Hass, der Havel in seinen letzten Jahren in der tschechischen Öffentlichkeit entgegenschlug. Sei dies, weil er den rechtzeitigen Abgang aus der Politik vielleicht versäumt hatte und am Ende vielen Landsleuten nur noch als lästiger Moralprediger erschien; sei es, weil viele Medien seine zweite Ehefrau Dagmar nicht mochten; sei es, weil Havel selbst einen katastrophalen Umgang mit den Medien pflegte. Michael Žantovskýs Erklärung: „Zum kleineren Teil mag es mit der bedauerlichen Neigung einer Nation mit starken plebejischen und kleinbürgerlichen Wurzeln zu tun haben, jedermann in die Schranken zu weisen. Dazu kam noch etwas anderes: Es war etwas an dem bohemehaften, liberalen, kontaktfreudigen Havel, das manche Leute irritierte.“ (Hat Žantovský da etwa auch österreichische Gemütszustände beschrieben?) Es wäre interessant zu erfahren, wie all seine Kritiker nach den Erfahrungen mit seinen Nachfolgern heute über Havel denken. ■

Michael Žantovský

Václav Havel

In der Wahrheit leben. Die Biografie. 688S., geb., SW-Abb., €26,80 (Propyläen Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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