Golfen in der Nacht

Die in London aufgewachsene Jhumpa Lahiri beschreibt in ihrem Roman „Das Tiefland“ die politischen Krisen und Proteste im Indien der Sechzigerjahre anhand des Lebenswegs zweier hochbegabter Brüder.

Das Tiefland“ von Jhumpa Lahiri passt zu Sigrid Löfflers Weltliteratur wie die Faust aufs Auge – jedenfalls auf den ersten Blick. Die Autorin bengalischer Herkunft ist in London geboren, später in Rhode Island aufgewachsen und verfügt damit über eine Kulturen und Kontinente überspannende Biografie – ganz abgesehen davon, dass sie neben einer ganzen Reihe von Auszeichnungen 2000 den Pulitzer Prize for Fiction bekommen hat. Und da sie vermutlich auch ihre Muttersprache Bengali beherrscht, erfüllt Jhumpa Lahiri zudem Löfflers an die neue Weltliteratur gestellte Erfordernis, in ihrer Zweit- oder Drittsprache zu schreiben.

Fragt sich nur, was daran nach Joseph Conrad oder Vladimir Nabokov so neu ist. Auch die Geschichte der Brüder Subashi und Udayan erfüllt, obwohl doch der Titel „Das Tiefland“ eher an die Oper von Eugen d'Albert oder den gleichnamigen Film von Leni Riefenstahl denken lässt, die Anforderungen einer entlang historischer Entwicklungen und politischen Verwerfungen – inklusive Blut und Tod – erzählenden Literatur.

Subashi und Udayan, zwei hochbegabte Brüder aus der unteren Mittelklasse Kalkuttas, wachsen am Rand eines Feuchtgebietes auf, das neben dem Tollygunge-Golfklub liegt. Das Gelände, 1774 von Colonel Tolly für den kolonialen Pferdesport erschlossen, wurde dann zum Golfklub. Noch später wurde die grüne Lunge Kalkuttas um ein Hotel erweitert, für dessen Speisesaal, wie der Verfasser dieser Kritik erlebte, vor zehn Jahren noch Sakko- und Krawattenzwang bestand. Schon dieser Schauplatz, den Kushal Mookherjee in seinem reich bebilderten Buch „Bird and Trees of Tolly“ beschreibt, zeigt die Fähigkeit der Autorin, konkrete Schauplätze und Sachverhalte gleichermaßen unauffällig wie eindringlich für ihren Roman zu instrumentieren. Tollygunge ist die idyllische Kulisse für den Roman, aber auch für die sozialen Spannungen des unabhängig gewordenen Indiens und die revolutionären Bewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre.

Nachts steigen die halbwüchsigen Brüder, wenn sie das Lernen oder Schachspielen satt haben, über die Mauer, um auf dem verbotenen Gelände von Tollygunge mit einem verbogenen Schläger zu golfen. Bevor sie die illegale Platzreife erlangen, werden sie aber von einem Polizisten gestellt, der Subashi grausam mit dem verbogenen Eisen zweimal schlägt, bevor sich Udayan dazwischenwirft. Im Gegensatz zu dem zurückhaltenden Subashi, der später sein Biologiestudium mit einem Stipendium in Rhode Island abschließt, entscheidet sich Udayan, obwohl oder geradeweil er der Dynamischere beziehungsweise politisch Aktivere ist, für eine bescheidene Karriere als Lehrer.

Was als präzise Schilderung einer Jugend in Kalkutta beginnt, weitet Jhumpa Lahiri mit Sympathie und großer Sachkenntnis zu einer Darstellung der globalen studentischen Protestbewegung während der Sechziger- und Siebzigerjahre aus. Die bengalischen Studenten empören sich über die himmelschreienden sozialen Missstände vor allem in Naxalbari, einem im Gebiet von Darjeeling liegenden Dorf. Aus Protest gegen die korrupte kommunistische Partei CPI(M) spaltet sich die radikale CPI(ML) ab, die Kämpfe in Naxalbari führen zur Entstehung der Naxaliten. Militante Radikale wie dieWeathermen in den USA oder die deutsche RAF haben sich aufgelöst, aber die Naxaliten liefern sich mit der größten Demokratie der Welt immer noch einen Guerillakrieg, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Schatten der Gewalt über allem

Lahiri arbeitet belletristisch die Genesis jenerKämpfe heraus, die ihrer berühmten bengalischen Kollegin Arundhati Roy zum Thema leidenschaftlicher Reportagen wie „Krieg im Herzen Indiens“ wird. Während Subashi als Stipendiat in Rhode Island jeden Kontakt mit der durch den Vietnamkrieg aufgestachelten Studentenbewegung vermeidet, wird Udayan in Kalkutta immer radikaler. Er heiratet gegen den Widerstand der Eltern die Philosophiestudentin Gauri und wird nach dem Mord an einem Polizisten im Sumpfgebiet zwischen seinem Heimathaus und dem Tollygunge-Golfklub ohne Verfahren vor den Augen der Eltern und seiner schwangeren Frau erschossen. Subashi, der Monate zu spät aus den USA kommt, bemerkt die Unversöhnlichkeit in seiner Familie. Aus dem Schuldgefühl heraus, den Bruder im Stich gelassen zu haben, heiratet er dessen Witwe und nimmt sie mit in die USA.

Wie zuvor schon bei Subashi beschreibt Jhumpa Lahiri auch hier präzise die Sozialisation seiner Schwägerin beziehungsweise Frau Gauri, die in dem fremden Land eine Tochter zur Welt bringt und anschließend ihr Philosophiestudium beendet. „Das Tiefland“ nimmt eine neue Wendung, mutiert zu einer Art stillen Horrorgeschichte über die Unfähigkeit der Protagonisten, mit den Verletzungen und Schuldgefühlen umzugehen, die Udayans Tod in ihnen verursacht hat.

Die Autorin entwirft vor der friedvollen Szenerie Neuenglands eine Reflexion über die Traumata, die für die Protagonisten aus politischer Gewalt, aus Gewalt überhaupt, entstehen. Der Schatten des toten Udayans legt sich über seine Angehörigen. In Kalkutta erholen sich die Eltern, die, hoffend auf die Zukunft der Söhne, ihr Haus ausgebaut haben, nicht vom Tod Udayans. Und in Rhode Island verweigert sich Gauri ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau, bis sie, sobald ihre akademische Karriere ins Laufen kommt, vor Subashi und ihrer Tochter nach Kalifornien flieht. Der Vater der Brüder stirbt enttäuscht, die Mutter verbringt ihre alten Tage damit, den Gedenkstein für ihren Sohn von all dem Unrat zu befreien, der sich in dem zur Müllhalde verkommenden Gebiet täglich vervielfacht. Nur Subashi, wenn auch etwas einsam, scheint ein wenig glücklich mit dem Aufziehen seiner Nichte Bella, der er lang verschweigt, dass er nicht ihr Vater ist. Zu den seltenen Vorzügen der Autorin Lahiri gehört eine stille Empathie für ihre Figuren, eine Parteilosigkeit, die doch nie zur Beliebigkeit wird.

Ungefähr dann, als Subashi seiner fast erwachsenen Tochter Bella von ihrem wirklichen Vater erzählt, ändert „Tiefland“ erneut seinen Charakter und wird zur Familienchronik, die sich nun zentral dem Leben Bellas zuwendet. Dabei übt das Buch einen starken Sog aus; wenn dem Leser in diesem exzellenten Werk etwas abgeht, dann die Aussparung von Subashis Berufsleben, seine Frustrationen und Triumphe als Meeresbiologe auf akademischem Feld. Zuletzt sprengt die Autorin dieses etwas triste Familienepos und kehrt nach Tollygunge und zum Ursprung des Unheils zurück. Lahiri erzählt in einer furiosen Rückblende Udayans letzte Sekunden, ehe ihn die Polizeikugeln treffen. Der Rückgriff auf die Innenperspektive eines seit Langem Toten wird zur literarischen Tour de force, zum Sieg des Erzählens, der Liebe und Hoffnung über Gewalt und Ungerechtigkeit. Weltliteratur eben. ■

Jhumpa Lahiri

Das Tiefland

Roman. Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger. 528 S., geb., €23,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2015)

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