Mit dem Kanapee im Mund

Milan Kundera, mittlerweile 85, meldet sich nach 15 Jahren mit einem Roman zurück: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ gestaltet keine Figuren, sondern Gedanken, die in Figuren projiziert werden. Schnörkellos, lakonisch.

Dass sich etwas nicht verkauft, ist noch kein Qualitätsmerkmal. Aber der Eindruck, dass künstlerischer Anspruch und kommerzieller Erfolg einander eher im Wege stehen, ist keine bloße Täuschung. Es gibt allerdings Ausnahmen. Die Romane von Milan Kundera gehören dazu. Der 85-jährige gebürtige Brünner, der bereits seit 40Jahren in Frankreich lebt und so französisch ist, wie Vladimir Nabokov Amerikaner war, hat nach einer Pause von 15 Jahren wieder ein belletristisches Werk veröffentlicht.

Noch nie hat Kundera so lakonisch erzählt wie diesmal. 130 Seiten mit großzügigem Durchschuss reichen ihm für seinen Roman. Er verzichtet auf jedes Ornament. Seine kurzen Sätze reihen sich aneinander, nüchtern und kühl. Rhetorische Fragen, die alsbald beantwortet werden, rücken den Erzähler ins Bewusstsein des Lesers.

Eines, aber nur dieses eine, verbindet Kundera mit Thomas Bernhard: die Adaption musikalischer Strukturen für Erzähltexte. Gleich das erste Unterkapitel des neuen Romans nutzt eine Technik, die für Kundera kennzeichnend ist: die Wiederholung oder das Thema mit Variationen. Dreimal hinter-einander verwendet er die gleiche Syntax, die nahezu gleiche Formulierung. Das Ausgangsmaterial dieses Unterkapitels wird im übernächsten Hauptkapitel wieder aufgenommen, und Kundera begnügt sich nicht mit der Wiederholung, er thematisiert sie auch noch. Einmal mehr macht sich der Erzähler bemerkbar.

Kundera, der als junger Mann an der Prager Filmschule Literatur unterrichtet hat, kennt sich in der Kunst der Montage aus. Sie kommt, in verschiedenen Varianten, in all seinen Werken vor. „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ besteht aus sieben Teilen, die in übertitelte Unterabschnitte gegliedert sind. Das letzte Hauptkapitel trägt den Titel des Romans: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Die Teile sind voneinander durch einen Kontrast getrennt, der dem „harten Schnitt“ im Film entspricht. Ein Zusammenhang ist, über die Schlüsse und Anfänge der Teile hinweg, nicht gleich zu erkennen. Die Brüche betreffen das thematische Material, den Ort und die Zeit des Geschehens. So endet der erste Teil mit der Lüge eines von vier Freunden, der vorgibt, an Krebs erkrankt zu sein. Der zweite Teil beginnt mit einer Anekdote über Stalin, als deren Quelle Kundera Chruschtschows auf Tonband gesprochene Erinnerungen nennt und die in der Folge interpretiert und entfaltet wird.

Milan Kundera hat aus seiner Vorliebe für den essayistischen Roman nie ein Geheimnis gemacht. Seine Hausgötter waren schon sehr früh Diderot, Rabelais, Cervantes, Sterne, Fielding, Kafka, Musil, Broch, Gombrowicz – und sie sind es geblieben. Kunderas eigene Romane gehen zunehmend nicht von Figuren, gar von deren Psychologie aus, sondern von Thesen, von gedanklichen Konstruktionen, die in Figuren projiziert, durch eine eher karge Handlung zum Leben erweckt werden. Was ihn dabei beschäftigt, was also den stofflichen Kern seiner romanhaften Essays ausmacht, ist über ein halbes Jahrhundert erstaunlich konstant geblieben.

Für den Tschechofranzosen Kundera, der in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Begeisterung für die kommunistische Utopie geteilt hat und dann, kurz vor dem Prager Frühling, zu einem der artikuliertesten Gegner ihrer so unvollkommenen Verwirklichung wurde, für diesen sieben Jahre älteren Kollegen Václav Havels, der auch nach der Samtenen Revolution 1989 nicht in seine eher verachtete Heimat und erst recht nicht in die Politik zurückkehren wollte und der seit mehr als 20 Jahren in französischer Sprache schreibt, ist Stalin immer noch eine (negative) Bezugsperson, obgleich er im Roman selbst damit spielt, dass der sowjetische Diktator und seine Zeitgenossen jüngeren Menschen mittlerweile unbekannt sind und nichts bedeuten. Was gerade in diesen Tagen so drastisch in die öffentliche Wahrnehmung gedrungen ist – dass der Weg von der Humorlosigkeit zum Terror kurz ist –, war von Anfang an, seit dem „Scherz“, das Thema Kunderas, und es fußt auf den Erfahrungen im sowjetischen Modell des Kommunismus, das die Tschechoslowakei nach 1948 übernommen hat.

Kunderas erster Roman wurde wenige Monate vor dem Prager Frühling veröffentlicht, als dieses Modell bereits zu bröckeln schien. Dass die Sowjetunion und ihre Verbündeten noch einmal zu einem für die Tschechen und die Slowaken tragischen Schlag ausholen würden, ehe sie, gut zwei Jahrzehnte später, endgültig aufgaben, konnte Kundera nicht vorausahnen. Aber die Prägung durch die Jahre, die sein Kollege Josef Škvorecký in den „Feiglingen“ unübertroffen geschildert hat, und durch die Jahre danach ist geblieben. Jetzt, mit 85 Jahren, lässt Kundera einen seiner Helden aussprechen, was er schon gewusst hat, als er seinen ersten Roman geschrieben hat, wofür sein Ludvik darin einen hohen Preis zahlen musste: „Scherze sind gefährlich geworden.“

Kunderas ironischer Blick, der immun gegen Pathos und Lüge ist, manifestiert sich exemplarisch in einer kurzen Szene, in der zwei Frauen auf einer Cocktailparty eine Konversation führen, die dadurch in ihrer Belanglosigkeit entlarvt wird, dass die beiden Damen zugleich versuchen, die Bissen von Kanapees in ihren Mündern zu verschieben. Das ist, was Viktor Šklovskij als Verfremdung definiert hat, freilich mit einem komischen Effekt.

Mit sprachlichen Bildern geht Kundera sparsam um. Wenn dann eines auftaucht, ist es umso perfekter. So hat der Beobachter von drei Herren, die einen Wein kosten, „den Eindruck, an einer Bestattung teilzunehmen, bei der drei Totengräber den erhabenen Geschmack des Weines begruben, indem sie die Erde und den Staub ihres Geschwätzes auf den Sarg warfen“.

Im sechsten, dem vorletzten Teil scheinen die Fäden der Handlung wie in der Coda einer eng geführten Fuge zusammenzukommen. Sie werden nach dem Vorbild einer filmischen Parallelmontage nacheinander aufgenommen und erzeugen so den Eindruck der Gleichzeitigkeit. Und als Basso ostinato begleitet die Geschichte von dem vertrottelten Kalinin, der seinen Harn nicht halten kann und nach dem – für Kundera ein Treppenwitz der Geschichte – Königsberg, die Stadt Immanuel Kants, benannt ist, die Erzählung. Kalinin war immerhin von 1919 bis 1946 Staatsoberhaupt der Sowjetunion.

Ganz am Schluss stellt sich ein Kinderchor im Halbkreis auf und singt die „Marseillaise“. Der Kundera-Leser weiß: Das verheißt nichts Gutes. Und die Bedeutungslosigkeit – im französischen Begriff „l'insignifiance“ schwingt auch die nicht ganz synonyme „Belanglosigkeit“ mit –, die als Stichwort im Titel auf die Unsterblichkeit, die Langsamkeit, die Identität, die Unwissenheit folgt? Was hat es mit ihr auf sich? Das bleibt Kunderas Geheimnis. ■

Milan Kundera

Das Fest der Bedeutungslosigkeit

Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. 140 S., geb., €17,40 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2015)

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