Der Dichter als Medium

Es hilft, wenn man die Sprache beherrscht, aus der man einen Text übersetzt. Es schadet auch nicht, wenn man mit dem Kulturkreis, der sie angehört, vertraut ist. Bei Raoul Schrotts Übertragung von Hesiods „Theogonie“ ist nichts davon der Fall.

Warum Hesiod? Im Grunde war es naheliegend! Er ist der zweite große griechische Epenschreiber nach Homer, und seine Thesen zu Homer („Homers Heimat – Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe“, Hanser Verlag) haben Raoul Schrott ja zu einem gewissen Bekanntheitsgrad verholfen. Warum also nicht weitermachen, wo man aufgehört hat? Im Unterschied zu Homer, von dem man, was sein Leben angeht, wenig weiß – und dem man daher auch viel andichten kann, auch, dass er eigentlich im assyrischen Kulturraum gelebt haben müsse (Schrott) – ist Hesiod (geboren vor 700 vor Christus) der erste Autor des Abendlandes, der in seinen Werken viel Autobiografisches preisgibt, speziell in dem jüngeren seiner beiden Epen, den „Werken und Tagen“. Jedoch auch in dem älteren, der „Theogonie“, deren Raoul Schrott sich nun angenommen hat, ist Hesiod als Autor mehr als präsent. Er ist schließlich auch der erste Künstler Europas, der sein Werk signiert hat.

Gleich zu Beginn des Epos, in dem sogenannten Musenproömium, erzählt er von seiner Berufung zum Dichter: „Sie haben Hesiod einst den schönen Gesang gelehrt?“ Sie sind die Musen, und der schöne Gesang ist die „Theogonie“ selbst. Hesiod formuliert hier in aller Kürze, was man als sein eigenes und in weiterer Folge ganz allgemein auch als das antike poetologische Programm bezeichnen könnte: Der Dichter versteht sich als das Durchgangsstadium, durch das hindurch sich die Dichtung offenbart. Die Musen lehren sie ihn. Er ist lediglich das Medium und das, was er verkündet, ist eine mythische Wahrheit, die als solche nicht an sein subjektives Ich gebunden, sondern etwas Objektives ist: die Geschichte von der Welt in ihren Anfängen.

Darum geht es nämlich in der „Theogonie“. All das dürfte Schrott jedoch entgangen sein, wie so vieles andere auch, denn seine Übersetzung des Verses lautet: „Sie waren es, die Hesiod schön zu singen lehrten.“ Hat Hesiod vorher falsch gesungen? Oder gar nicht? Und was hat er dann gesungen? Von all dem, was Hesiod hier aussagt, ist bei Schrott nichts mehr übrig.

Das richtige Verständnis dieser Stelle hätte die fälschliche Problematisierung einer anderen gar nicht erst aufkommen lassen: Die Mutter der Musen ist nach Hesiod Mnemosyne, das personifizierte Gedächtnis. Sie ist es, die den Erfahrungsschatz der Menschheit immer wieder aufs Neue aufruft, und als solche ist sie eine Grundkomponente für die Kunst des mythischen Erzählens. Die von Schrott gestellte Frage, was Mnemosyne mit den Musen zu tun hätte, stellt sich hier nicht. Es ist zugegebenermaßen schwierig, einen Text, der rund 2700 Jahre alt ist, zu übersetzen und in eine adäquate Sprache zu bringen. Oft hilft es, wenn man zum einen die Sprache, aus der man übersetzt, annähernd beherrscht und zum anderen mit dem Kulturkreis, der sie angehört, ein wenig vertraut ist. Manchmal reicht sogar schon ein Blick ins Wörterbuch, um gravierende Übersetzungsfehler zu vermeiden. Übersetzungsfehler, die dann wie etwa im folgenden Fall auch noch zum Ausgangspunkt für eine falsche Deutung werden: So bedeutet das griechische Wort moira „Teil“ oder „Anteil“ und nicht, wie Schrott übersetzt „Hälfte“.

Es macht außerdem einen Unterschied, ob eine Göttin im Rahmen der Zuteilung ihres Wirkungsbereichs Anteil am Himmel erlangt oder sogar eine ganze Hälfte davon für sich beanspruchen kann. Die Rede ist übrigens von Hekate, der Göttin der Wege, die Zutritt zu allen Bereichen der Welt hat, eben auch zum Himmel. Zu einer „Himmelgöttin“ macht sie das aber noch lang nicht.

Überhaupt spielt sie im Pantheon von Hesiod eine eher untergeordnete Rolle. Trotzdem ist sie es, auf der Raoul Schrotts zentrale These zur „Theogonie“ fußt. Denn man kann, wenn man es mit der Etymologie nicht allzu genau nimmt – und das tut Schrott nicht –, Hekate auf die hethitische Muttergottheit Hepat-Musuni zurückführen, und dann eröffnen sich mit einem Mal ganz neue und bisher ungeahnte Perspektiven für den interessierten Hesiod-Leser.

Er weiß nun endlich auch, worauf er die bis heute aus dem Griechischen nicht erklärbare Bezeichnung „Muse“ zurückführen muss, denn, folgen wir Schrott: „Vor ihrem Transfer nach Griechenland waren Hekate und die Musen eins. Da bildeten sie die Dyade Hepat-Mus(u)ni“, und weiter: „Die eigentliche Etymologie von Mousa/Mousai ist denkbar einfach: Es handelt sich um eine simple griechische Calque jener Göttin, die bei den Hethitern Musini geschrieben wurde.“

Hinter Hepat-Musuni verbirgt sich demnach eine ganze Horde von griechischen Göttinnen: Hekate selbst (=Hepat) und die neun Musen (=Musuni). Auch für das Faktum, dass die hethitische Göttin im Zentrum eines „Kreises von mit ihr assoziierten Göttinnen“ steht, was von Hekate in der „Theogonie“ definitiv nicht ausgesagt wird, hat Schrott eine Erklärung parat: Hesiod setze Hekate in den Mittelpunkt seiner „Theogonie“, um ihre zentrale Stellung im Pantheon der griechischen Götter zu betonen.

Es ist nicht gerade ein Novum in der Hesiod-Forschung, dass das griechische Epos orientalische Einflüsse aufzeigt. Darauf haben unter anderem auch schon die beiden Klassischen Philologen Martin L. West und Walter Burkert hingewiesen. Es kann nur nicht angehen, dass sämtliche „rätselhafte Passagen und Wendungen“ damit erklärt werden. Oft lassen sich diese nämlich bei genauerem Hinsehen auch aus dem Text selbst erklären. Das ist zumindest der Anspruch, den man an ein Stück Weltliteratur – und das ist Hesiods „Theogonie“ ja unbestritten – stellen kann und muss. ■

Hesiod

Theogonie

Aus dem Altgriechischen und erläutert von Raoul Schrott. 224S., geb., €20,50 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2015)

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