Die Zweite von links

In einem Koffer in New York: Alfred Polgars wiederentdeckte Hymne auf Marlene Dietrich.

Er war der Großmeister der kleinen Form, und seine Textkostbarkeiten waren stets nur wenige Seiten lang. Einzige Ausnahme: „Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin“, ein Buch, das man nicht erst heute rezensieren müsste, wenn 1938 nicht über Nacht alles anders geworden wäre.

Aber die Geschichte dieses Porträts beginnt schon viel früher. 1927 sah Polgar die damals noch unbekannte Marlene Dietrich in den Wiener Kammerspielen – als Tanzgirl („die Zweite von links“) in einem amerikanischen Boulevardstück – und war sofort fasziniert. Er verfolgte ihre weitere Karriere, aus dem Kontakt wurde zwar keine richtige Freundschaft, aber doch tiefe Verbundenheit und später eben dieses Buchprojekt, das aus mehreren Gründen dann doch nie realisiert wurde.

Der Polgar-Spezialist Ulrich Weinzierl,der das Manuskript 1984 in einem Koffer in der New Yorker Wohnung von Polgars Stiefsohn entdeckt und nun für eine makellose Edition gesorgt hat, beschreibt die Genese und das Scheitern des Projektes in einem sehr anschaulichen, höchst aufschlussreichen Nachwort, das uns viel über Polgar und auch die Dietrich, wie Polgar sie gesehen hat, erklärt.

Um welche Marlene geht es hier? Wir sehen den Filmstar, die Menschenfreundin, die fürsorgliche Mutter, Hausfrau und famose Köchin. War sie das alles? Sagen wir gleich: Darum geht es nicht. Es ist kein kritisches Buch, sein Motto könnte lauten: Über Marlene nur das Beste! Man muss auch bedenken: Polgar hatte Schulden bei der Dietrich, sie hat einige Male mit ansehnlichen Beträgen ausgeholfen, als er nach 1933 in Deutschland nicht mehr publizieren konnte.

Dass er ihr deswegen seine Dienste als Autor angeboten hat, liegt auf der Hand – aber aus Gefälligkeit hat Polgar dieses Porträt gewiss nicht geschrieben: Auch er ist der Faszination Dietrich, der Anziehungskraft des „Blauen Engels“ erlegen. Seitenweise beschreibt er ihr Gesicht, ihre Stimme, natürlich die legendären Beine. Dass er in die Dietrich verliebt war, merkt man dem – untypisch für Polgars disziplinierte Arbeitsweise – geradezu weitschweifigen Text sofort an.

Psalmodist einer Filmdiva

„Marlene“ ist denn auch eine Hymne auf den „sinnlichen Reiz“, dessen war sich der Autor nicht nur bewusst, er selbst bezeichnete sich als „Psalmodist einer Filmdiva“. Im Sommer 1937 machte er sich an das Buch, besuchte die Dietrich in ihrem Sommerdomizil in St.Gilgen, reiste ihr sogar nach Paris nach und, vor allem, plagte sich mit dem Text herum, der ihm schwerer fiel, als er sich vorgestellt hatte. Das Ergebnis: eine literarische Anhimmelung auf höchstem Niveau und ein ebenso schönes wie wichtiges Zeugnis der frühen Dietrich und der Filmkunst in den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Und dann war alles umsonst?

Vielleicht damals und zeitlebens. Obwohl unter den wenigen Manuskripten, die Polgar in die Emigration mitnehmen konnte, das „Marlene“-Bild war – er hatte es erst kurz vor seiner Flucht aus Österreich fertiggestellt –, blieb es ein Manuskript im Koffer und wurde bald von der Zeit überholt. Genau das macht den Text heute wieder interessant und wertvoll. Denn Polgar beschreibt eine Dietrich, wieman sie nicht mehr kennt, und er zeichnet mit ihr das Bild einer Welt, die es nicht mehr gibt. Selten ist ein Stück gute Literatur auch ein so wichtiges Zeitdokument und umgekehrt ein bedeutsames Dokument gleichzeitig so gute Literatur. Polgar eben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2015)

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